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Hugo Portisch - Was jetzt
18.05.2025 um 12:43
Der 2021 verstorbene Historiker und Journalist Hugo Portisch war Jahrzehnte lang der politische und zeithistorische Erklärbär in der österreichischen Medienszene und hat gemeinsam mit dem ORF sowohl in Film- als auch in Buchform umfangreich die Geschichte der beiden österreichischen Republiken ab 1918 vorgestellt.
Dieser kurze Band (ca. 70 Seiten Text) aus 2011 thematisiert die Schuldenkrise in der EU, wobei er - typisch Portisch - einen interpretierenden Abriss der Geschichte der EU präsentiert. Sein Hauptaugenmerk liegt auf zwei Aspekten: Deutschland musste nach dem Zweiten Weltkrieg in den Westen integriert werden. Die harten Strafen nach dem Ersten Weltkrieg wären kontraproduktiv gewesen, so die Lehre. Dabei wären nicht die USA federführend gewesen, sondern Frankreich sei die treibende Kraft für einen Prozess gewesen (Schuman), der in der Montanunion umgesetzt wurde. Ziel: Nie wieder Krieg in Europa. Schon in den Römischen Verträgen seien politische Ziele gesetzt gewesen: Nach der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sollte eine politische folgen, auch sei die Montanunion/EG offen für weitere Mitglieder gewesen (Artikel 237 - EUR-LEX).
Dass nach Zusammenbruch der Sowjetunion die ostmitteleuropäischen Staaten einen Schutz unter EG/EU und NATO suchten, sei nachvollziehbar. Portisch nennt diese Staaten mit Henry Kissinger "Zwischenstaaten", die Jahrhunderte lang ein Spielball Deutschlands und Russlands waren. Der zweite Aspekt war die Vereinigung von BRD und DDR, die nach Zustimmung Russlands nur umgesetzt werden konnte, wenn der Forderung Frankreichs nach einer gemeinsamen europäischen Währung stattgegeben wird.
Getrickst wurde mehrfach. Sowohl bei den Aufnahmekriterien zu EG/EU als auch zur Währungsgemeinschaft, was während der Finanzkrise zu explodierenden Schulden führte. Diskutiert werden in diesem Zusammenhang die Unterschiede zwischen Rettungsschirm und Eurobonds. Portisch zieht Letztere vor, da bei Schuldenausfall die betroffenen Bevölkerungen weniger belastet würden.
Kritisch betrachtet er die zur Rettung geforderten Einschnitte in die Staatshaushalte, welche zu Arbeitslosigkeit und Sozialabbau führen würden. Als drastisches Beispiel führt Portisch die Völkerbundanleihe an die bankrotte und von Hyperinflation gebeutelte Republik Österreich 1922 an. Einerseits konnte der Staatshaushalt saniert werden und Österreich zahlte die Anleihe bis 1980 vollständig zurück, andererseits sieht er jedoch die damit verbundenen Auflagen an die Republik als Grundstein für die politischen Verwerfungen und Krisen der Ersten Republik, die dazu führten, dass sich die politischen Parteien bewaffneten und die Republik 1934 in einer faschistischen Diktatur endete. Hier seine drastische Beschreibung der Auflagen:
die Einschränkung der Krankenanstalten und Krankenkassen, Abbau der Heilanstalten für Kriegsbeschädigte, der Invalidenschulen und Invalidenheime (vier Jahre nach dem Krieg!), Verringerung der Anzahl der Mittelschulen, Erhöhung der Schulgelder und der Kollegiengelder an den Hochschulen, Auflassung entbehrlicher Postämter, Zusammenlegung der Finanzämter der Bundesländer zu einer Behörde, Umwandlung der Bundesbahn in einen selbstständigen Körper, Reform der Bundestheater im Sinne der Selbsterhaltung aus eigenen Einnahmen, Auflassung von entbehrlichen Bezirksgerichten, Einschränkung der Gewerbeförderung, Entstaatlichung der Fachschulen, Auflassung einer ganzen Reihe von Inspektoraten. Eingeschränkt und sogar teilweise gestrichen wird die Arbeitslosenversicherung, die Pensionen werden gesenkt, der Mieterschutz teilweise aufgehoben etc.Dennoch ist das Projekt EU für Portisch wichtig und er wünscht sich eine politische Einigung, einen europäischen Bundesstaat, um auch politisch als die global stärkste Wirtschaftskraft auftreten zu können. Dafür bedürfe es jedoch die Umsetzung zweier wichtiger, noch immer vernachlässigter Aspekte:
Damit nicht genug! Österreich musste, so wie es etwa Finnland jetzt von Griechenland forderte, „Sicherheiten“ bereitstellen. Alle Einnahmen aus den Zöllen und die Tabaksteuer mussten dem Generalkommissar als Sicherheiten zur Verfügung stehen. Und das Anleihegeld? Das darf weder die Regierung noch das Parlament ausgeben, nur der Völkerbund-Generalkommissar, ein Niederländer namens Alfred Rudolph Zimmermann. Die „Arbeiterzeitung“ erscheint mit der Schlagzeile „Gegen Seipels Sklavenvertrag“ und beschuldigt den Kanzler des Hochverrats. Zwar muss das Parlament in Anbetracht der totalen Pleite dem Vertrag zustimmen, aber das innenpolitische Klima ist vergiftet. Es sind vor allem die erst vor Kurzem mühsam errungenen Sozialmaßnahmen, die jetzt aufgehoben werden, es ist die rapid ansteigende Arbeitslosigkeit, die sich im Nu auf 220.000 verdoppelt, um zur Zeit der großen Depression 1929 auf über 400.000 zu steigen.
- Das Subsidiaritätsprinzip müsse peinlichst umgesetzt werden. Nur Regelungen, die nicht von den Einzelstaaten alleine entschieden werden können, dürfen auf EU-Ebene beschlossen werden. Dies sei derzeit nicht immer so.
- Die Kommunikation mit der Bevölkerung müsse transparent gestaltet werden, um dem Nimbus eines undemokratischen "Brüssel" entgegenzuwirken, welcher Populisten eine Angriffsfläche biete.
Auch wenn die Finanzkrise nun lange her ist, sind viele Gedankenansätze weiterhin aktuell und das kleine Büchlein bleibt lesenswert.