schneider-schlafes bruder

Der Debutroman des Vorarlberger Schriftstellers Robert Schneider aus dem Jahr 1992 war und ist sein erfolgreichster. Die Geschichte spielt zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einem Vorarlberger Bergbauerndorf und umfasst mehrere Aussageebenen:


  1. Die Lebensgeschichte des Johannes Elias Alder
  2. Inzucht
  3. Gewalt
  4. Der Untergang des Dorfes


Johannes Elias Alder ist 1803 geboren, sein leiblicher Vater ist vermutlich nicht Seff, der Mann seiner Mutter, sondern der Kurat (Hilfspriester) der Gemeinde. Er ist kein gewöhnliches Kind, sondern entwickelt sich mit übernatürlichen Eigenschaften, die jedoch nicht transzendent (religiös) gestaltet sind, sondern etwas Dämonisches an sich haben. So hört er bei einem Stein am Bach als Fünfjähriger einen lauten Knall in den Ohren, entwickelt in Trance ein feines Gehör, mit dem er selbst weit entfernte Herzschläge hören kann, seine Stimme erhält einen riesigen Umfang von Bass bis Ultraschall (er kann mit Tieren kommunizieren), seine Iris verfärbt sich von Grün zu Gelb und er wird früh zu einem Kindmann pubertieren. Hier Schneiders Beschreibung dieser Metamorphose:
Der kleine Körper fing an, sich zu verändern. Jäh traten die Augäpfel aus ihren Höhlen, ja stülpten sich über die Lider und dehnten sich bis unter die Augenbrauen. Und der Flaum seiner Brauen verklebte sich auf der tränenden Netzhaut. Die Pupillen flossen auseinander und quollen über das gesamte Weiß der Iris. Ihre natürliche Farbe, das melancholische Regengrün verschwand, und es trat ein gleißend ekelhaftes Gelb an ihre Stelle. Der Nacken des Kindes versteifte, und sein Hinterkopf bohrte sich schmerzlich in den harten Schnee. Dann bäumte sich das Rückgrat, der Bauch blähte auf, der Nabel wurde hart wie Horn, und Blut sickerte aus der längst verwachsenen Haut des Nabels. Das Gesicht des Kindes aber bot einen derart entsetzlichen Anblick, als lägen alle je gehörten Wehschreie des Menschen und der Kreatur in ihm eingegraben. Die Kiefer traten hervor, die Lippen verkümmerten auf zwei dünne, blutleere Striche. Nach der Reihe fielen dem Kind die Zähne ein, denn das Zahnfleisch schwand, und es ist unerklärlich, weshalb Elias nicht daran erstickt ist. Dann, ungeheuerlich, wurde ihm das Gliedchen stämmig, und das frühe Sperma rann mit Urin und dem Blut des Nabels in einem dünnen Rinnsal warm die Leistenbeugen hinab. Während des ganzen Geschehens verlor das Kind alle Exkremente des Körpers, vom Schweiß bis zum Kot in ungewöhnlich großen Mengen.
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Geräusche, Laute, Klänge und Töne taten sich auf, die er bis dahin in dieser Klarheit noch nie gehört hatte. Elias hörte nicht bloß, er sah das Tönen.
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In Strömen unvorstellbaren Ausmaßes prasselten die Wetter des Klanges und der Geräusche auf die Ohren des Elias nieder. Ein irres Durcheinander von Hunderten von Herzen hub an, ein Splittern von Knochen, ein Singen und Summen vom Blut ungezählter Adern, ein trockenes sprödes Kratzen, wenn sich Lippen schlossen, ein Brechen und Krachen zwischen den Zähnen, ein unglaubliches Getöne vom Schlucken, Gurgeln, Husten, Speuzen, Rotzen und Rülpsen, ein Glucksen von gallertigen Magensäften, ein lautes Platschen von Urin, ein Rauschen von Haupthaar und das noch wildere Rauschen vom Haar der Tierfelle, ein dumpfes Schaben von Textilien auf Menschenhäuten, ein dünnes Singen, wenn Schweißtropfen verdampften, ein Gewetze von Muskeln, ein Geschrei von Blut, wenn Glieder von Tieren und Menschen stämmig wurden. Nicht zu reden vom wahnhaften Chaos der Stimmen und Laute des Menschen und aller Kreatur auf und unter der Erde.
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Und er sah noch tiefer und noch weiter. Sah das Getier des Meeres, den Gesang von Delphinen, den gigantischen Wehklang sterbender Wale, die Akkorde riesiger Fischschwärme, das Klicken des Planktons, das Zirbeln, wenn Fische ihren Laich absetzen, sah das Hallen von Wasserfluten, das Zerschellen unterirdischen Gebirgs, das gleißende Gellen der Lavaströme, den Gesang der Gezeiten, die Meeresgischt, das Surren der tausend Zentner Wassers, das die Sonne aufsog, das Raunen, Krachen und Bersten gigantischer Wolkenchöre, den Schall des Lichtes ... Was sind Worte! Von einem letzten Klang ist zu berichten, einem Klang von so filigraner Gestalt, daß er doch in all dem Rumor des Universums hätte untergehen müssen. Aber der Klang blieb und ging nicht unter. Er drang her von Eschberg. Es war das weiche Herzschlagen eines ungeborenen Kindes, eines Fötus, eines weiblichen Menschen. Was Elias gehört und geschaut hatte, vergaß er, aber den Klang des ungeborenen Herzens nicht mehr. Denn es war das Herzschlagen jenes Menschen, der ihm seit Ewigkeit vorbestimmt war. Es war das Herz seiner Geliebten. Unglaublich ist es, daß Elias diesen Gewaltakt überlebt hat und unglaublich, daß er nicht irrsinnig geworden ist davon.
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Nach dem furchtbaren Hörerlebnis traten die Deformationen am Leib des Kindes zurück.
Was bleibt, ist das absolute Gehör und seine Musikalität. Seine Liebe zu Elsbeth, der Cousine, deren Herzschlag er in Trance vernommen hat, wird nicht erfüllt. Er arbeitet am Hof seines Vaters, bringt sich in der Kirche selbst das Orgelspiel bei und beglückt das Kirchenvolk mit seinem Spiel und Gesang, beginnt in der Dorfschule Musik zu lehren. Eine Vision eines Kindes in der Kirche bringt ihm seine grüne Iris zurück (warum eigentlich? ganz motiviert ist die Irisverfärbung nicht):
Unsäglich sehnte es ihn nach der Schönheit, welche aus den geheimnisvollen Kindsaugen strahlte, und er wollte wenigstens die bloßen Füßchen berühren dürfen. Als er aber die Hand ausstreckte, riß der Körper des Kindes auf. Der Mund öffnete sich qualvoll, wollte sprechen und vermochte es nicht. Da mußte Elias sehen, wie der schwarze Flecken an der Schläfe zu glitzern anfing, wie sich um den Flecken ein nasser Hof ausbreitete. Die Wunde hatte zu bluten begonnen. Das Kind quälte sich noch immer, suchte zu sprechen, allein, es gelang ihm nicht. Und als es endlich den Mund wieder geschlossen hatte, drang ihm Blut zwischen den Lippen hervor. Elias streckte die Hand noch einmal nach dem Kind, langsam und mit ungemein zärtlicher Geste. Wieder riß der Kindskörper auf, und wieder suchte sein Mund zu sprechen.

Da ahnte Johannes Elias Alder, daß er das Kind nicht berühren durfte. Dann schwanden ihm plötzlich die Kräfte des Körpers, und ohnmächtig vor Sehnsucht brach er zusammen.

Er blieb zwischen den Bänken liegen, bis ihn am Morgen der Köhler Michel wachrüttelte. Als Elias die Augen öffnete, entglitt dem Michel ein gellender Schrei. Elias hatte die Farbe seiner Pupillen verloren. An die Stelle des grellen Gelbes war ein dunkles Grün gekommen, ein Grün, wie es die Bündten tragen, wenn es aus schwarzverhangenen Himmeln regnet. In Wahrheit jedoch hatte Elias Alder die Farbe seiner Pupillen wiedererlangt.
In der Stadt Feldberg (die reale Stadt Feldkirch ist zu erkennen) gewinnt er einen Orgelimprovisationswettbewerb, dass er ein Stipendium zum Studium erhalten kann, obwohl er keine Noten lesen kann, erfährt er nicht mehr. Denn er beschließt nicht mehr ins Dorf zurückzukehren, sondern setzt sich am Rückweg auf "seinen" Stein und beschließt nach der Lehre eines Wanderpredigers nicht mehr zu schlafen. Sein Cousin und Freund Peter (der Bruder von Elsbeth) bindet ihn an einem Baum fest und Johannes Elias wirft Unmengen an Tollkirschen, Blättern des Stechapfels und psychoaktiven Pilzen ("Narrenpilzen") ein, bis er nach sechs Tagen stirbt. Anders als in der Einleitung, ist nicht die Erschöpfung aus Schlafmangel Todesursache, sondern eine Tollkirschenvergiftung.
Um die Zeit des vormittäglichen Angelusläutens, am 9. September des Jahres 1825, verschied Johannes Elias Alder, unehelicher Sohn des Kuraten Elias Benzer und der Agathe Alder, genannt Seffin. Er starb an Atemlähmung, welche aufgrund des überdosierten Genusses der Tollkirsche eingetreten war.
Eigentlich wäre dies eine Geschichte mit vielen losen Enden. Interpretiert wird sie jedoch bereits über einen sehr geschwätzigen Erzähler, dass es um ein musikalisches Genie gehe, das - wie viele - aufgrund ihres abgeschiedenen, ungebildeten Lebens nie Berühmtheit erlangt habe wie zum Beispiel ein Mozart. Warum jedoch in die Trickkiste des magischen Realismus gegriffen wird? Vielleicht war es dem literarischen Zeitgeist des späten 20. Jahrhunderts geschuldet. Erfolgreich war der Roman und er wurde von Joseph Vilsmaier verfilmt.

Aber zurück zum Text. Eindrücklich wird die Enge eines Vorarlberger Bergbauerndorfs geschildert, deren Menschen durch härteste Arbeit ihr Überleben sichern müssen, was auch zu einer charakterlichen Härte führt. Die Geschichte ist durchsetzt von Brutalitäten.

So wird die Episode des eigentlich "nicht strengen" Lehrers erzählt, in der er ein Schulkind beinahe erschlägt:
Nun war Oskar Alder keineswegs ein strenger Lehrer. Die Rute pfiff selten. Dennoch hatte er einmal ein Lampartersches Kind so grausam zugerichtet, daß es bleibenden Schaden davontrug. Es hatte ihn ohne Arg einen Stierseckel geheißen, worauf er es zu Boden getreten und dort zu einem blutigstummen Häuflein zusammengeschlagen hatte. Hernach lasen die Mitschüler das Haupthaar von den Dielen und verschlossen die Trophäe stolz in einem tönernden Flacon. Wenn immer der Lehrer das Lampartersche jetzt ansah, es antworten sollte, fing es an zu stottern, und das Stottern blieb ihm zeit seines Lebens.
Der erste Brand im Dorf ist von Peter, dem Cousin von Johannes Elias, gelegt worden, um seinen Vater zu rächen, der ihm im Zorn seinen Arm gebrochen und verstümmelt hat. Verdächtigt wird der Holzschnitzer Roman Lamparter, der von einer Gruppe Erwachsener um dem "Vater" von Johannes Elias, Seff Alder, gelyncht wird. Dieser Mord wird wie folgt beschrieben:
Am Morgen des Stephanustages zerbrachen sie ihm mit gewaltigen Stiefeltritten die Tür, donnerten hinauf in den Gaden, ohrfeigten ihn aus den tiefsten Träumen, wollten ihm schon den Holzpfahl ins Gesicht rammen, hätte nicht einer Halt geboten und gerufen, der gottverreckte Hund solle bei lebendigem Leibe verbrennen. Zwei derer, die gekommen waren, schrenzten ihm das Nachtgewand weg, schlugen ihn aus der Bettstatt, rissen ihm ein Ohr ab, während der dritte wie der Teufel den ganzen Zierat des Gadens, das Schnitzwerk und den Hausrat mit Hammerschlägen zertrümmerte. Die Augen des dritten fielen auf eine Blechkanne, und auf der Kanne stand das Wort Leuchtöl geschrieben.

Dann warfen sie ihn nackt die Stiege hinab, doch er fiel glücklich und konnte entwischen. Sie setzten ihm nach, waren schneller, denn sie hatten die Kräfte von Mördern.
...
Dann vernahm er ihre Stimmen dicht vor seinen Augen, ging rückwärts, wandte sich nach allen Seiten, stieß plötzlich gegen einen Baumstrunk, schrie gellend auf; eine rußige Faust schoß aus dem Nebel, und er war gefangen.

Wo er denn heute sein gottverrecktes Sonntagsgewand gelassen habe, lachte es höhnisch. Er wußte nicht, sollte er die Hand gegen den blutstürzenden Kiefer stemmen, oder das Geschlecht verdecken. Ja und ob er denn heute sein Binokel verlegt habe. Er solle ihnen doch noch einmal wie die größte Studiertheit daherreden, vom Bergbauerndasein und dergleichen, solle in den steifen Kragen greifen, weibisch herumstolzieren, wie er solches meistenteils zu tun pflegte. Sie demütigten und quälten ihn mehr als zwei Stunden. Dann banden sie ihn mit Hanfseilen an einen Baumstumpen, sammelten halbverkohltes Holz, schlichteten es um seinen Körper, übergossen ihn mit Petroleum, brüllten vor Genugtuung und zündeten ihn an.
Das Haus des Schnitzers wird vom Bürgermeister zur Plünderung freigegeben.

Aber auch der Cousin Peter Alder, der Johannes Elias ein guter Freund ist, hat seine ganz dunklen Seiten. Als er mit 20 Jahren den Hof erbt, schickt er seine Eltern ins Ausgedinge, und gegenüber dem Vieh lebt er einen abgründigen Sadismus aus.
Peters Leben war wie das seines Freundes vorgezeichnet, und er durfte nicht erwarten, daß sich jemals eine Möglichkeit bieten möchte, der unerträglichen Langeweile des Bauerndaseins zu entkommen. An seinem zwanzigsten Geburtstag wanderte Nuif mit ihm nach Feldberg zu einem Advokaten, dem Sohn Hof, Wald und Bündten zu übertragen. Man wunderte sich damals in Eschberg sehr über Nuif, weshalb er dem Sohn ein so grenzenloses Vertrauen entgegenbringen konnte, erbten doch die Söhne erst beim Tod der Väter. Aber bald mußte auch Nuif einsehen, daß er sich in Peter getäuscht hatte. Zwei Wochen nach Inkrafttretung des Erbkontrakts quartierte Peter die Eltern ins Bubengaden, die Wohnstube durften sie ohne seine Erlaubnis nicht mehr betreten. Seit diesem Mißgeschick sah man den Nuif wieder fromm zur Kirche gehen, und das machte ihn zum noch größeren Gespött im Dorf.

Wie unverhohlen Peters Neigungen zu der Zeit schon waren, zeigte sich an dem, wie er sein Vieh behandelte. Unter dem Vorwand des guten Haushaltens studierte er an mehreren Rindern, wie lange sie ohne Wasser auskommen möchten. Einem Kalb hackte er einmal den Schwanz ab, nur weil es munter gebockt hatte. Einer frisch geferkelten Sau stach er die Augen aus, nachdem sie zwei ihrer Ferkel zu Tode gebissen hatte. Als er sich am offensichtlich Grausamen satt gesehen hatte, sann er auf Methoden und Wege, wie die Kreatur zu quälen sei, ohne daß sie das Zutrauen zum Herrn verlöre. Und war ihm das gelungen, sah er mit offenem Mund und geilen Augen in die Augen des irre gewordenen Tieres.
Psychologisiert wird sein Charakter durch eine schwach ausgeprägte Pubertät und seine Physiognomie.
Peter war kein Mann. Er hatte keinen Bartwuchs, war klein von Gestalt, im Gesicht die Spuren der Blattern, am Körper drahtig. Er hatte krauses Haar, und das unverkennbare Mal war sein verkrüppelter Unterarm. Seine Augen glänzten nußbraun. Es waren schöne Augen, wenn nicht das Licht des Abgründigen in ihnen flackerte.
Auch unterdrückte Sexualität, die zu skurrilen Brutalitäten führt, wird thematisiert. Gemeinsam mit Johannes Elias, dem begnadeten Stimmenimitator, treibt Peter einen "Scherz" mit der Abtreiberin und als Dorfhure verschrieenen Burga, die sich außerhalb mit einen Holzarbeiter befreundet hat, der bei einem Unfall seine Hoden verloren hat. Durch einen Brief locken sie Burga in den Wald, um sich mit ihm zu treffen. Mit der Stimme ihres Gottfrieds wird sie aufgefordert, sich auszuziehen, ihre Haare abzuschneiden und sich im Schlamm zu wälzen, dann würde er sie ehelichen.

Und als Johannes Elias im Wald war, um dem Tod entgegenzugehen, wird er Zeuge einer Bruder-Schwester-Vergewaltigung.

Nach einem zweiten Brand verlassen bis auf 13 Menschen das Dorf, und 1892 brennt es zum dritten Mal. Zwölf von ihnen verbrennen, nur Cosmas Alders, Elsbeths Sohn, überlebt, ist danach jedoch komplett antriebslos und verhungert 1912.

Mehrfach ist in diesem Text die Frage der Theodizee, also des Verhaltens Gottes gegenüber dem Leiden, gestellt, und die Antwort ist niederschmetternd.
Gott ist stärker, denn er liebt alles Unrecht unter der Sonne.