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Marlene Streeruwitz - Jessica, 30
26.07.2025 um 15:12
2004 erschien dieses nicht leicht verdauliche Werk der österreichischen Schriftstellerin Marlene Streeruwitz. Literaturtechnisch sehr ambitioniert präsentiert sie einen aktualisierten Perspektivenwechsel von Arthur Schnitzlers Theaterstück Anatol (mein Blogeintrag Arthur Schnitzler - Anatol), in dem ein junger Adeliger seine sexuellen Bedürfnisse bei einem Unterschichtmädchen, dem "süßen Mädel", aus der Wiener Vorstadt Hernals befriedigt, bis er sie wegen einer standesgemäßen Heirat verlässt. Zeitlich spielt die Handlung im Jahr 2003 während der scheiternden Regierungsverhandlungen zwischen ÖVP und Grünen.
Jessica Somner ist 30 Jahre alt, promovierte Kulturwissenschafterin, stammt aus der "Provinz" (der Steiermark), hat eine Zeitlang mit ihrem Ex-Freund in New York gelebt (ihre Traum- und Projektionsstadt), arbeitet als Praktikantin bei einer Modezeitschrift für Frauen, lebt von Zuwendungen ihres Vaters bzw. den Einkünften aus der Vermietung einer Kleinwohnung in Wien, in der zweiten ihr gehörigen Wohnung lebt sie. Sie joggt, ist modebewusst, ihre Laster sind nächtliche Eisfressereien und Sex.
Ihr "Anatol" heißt Gerhard Hollitzer, er ist fiktiver Staatssekretär für Zukunfts- und Entwicklungsfragen in der nicht fiktiven ÖVP/FPÖ-Regierung, er gehört der ÖVP an, ist ein Macht- und Karrieremensch, ist konservativ und betrügt seine getrennt von ihm lebende Frau mit anderen Frauen wie mit Prostituierten, sein "Schwanz ... ist auch ganz schön", wie Jessica meint. Funktion bei Jessica: "Pausenfüller".
Stilistisch ist der Text fast durchgehend ein innerer Monolog Jessicas (auch hier knüpft Streeruwitz an Texten von Schnitzler an) und in drei Teile geteilt.
- Gedanken während einer abendlichen Joggingrunde
- Gedanken während eines desaströsen Besuchs von Gerhard (nur hier gibt es auch Dialoge)
- Gedanken während eines Flugs nach Hamburg
Der Besuch Gerhards ist von Jessica initiiert, sie will/soll herausfinden, ob die Geschichte ihrer Freundin Mia, einer Fotografin, stimmt, dass Gerhard sie ein Wochenende lang gegen ihren Willen an ihr Bett gefesselt, ihr nur Wasser eingeflößt und sie nicht mal aufs WC lassen habe. Mia will darüber ein Buch schreiben. Nach einer Fellatio, bei der Gerhard Jessicas Kopf gegen ihren Willen geführt hat, stellt sie ihn zur Rede, nur seine Geschichte ist ganz anders. Gleichzeitig droht er aber, ihren Vater mit einer Steuerprüfung fertigzumachen und ihre Mutter (Lehrerin) versetzen zu lassen, falls sie die Publikation fördere. Gleichzeitig bietet er ihr aber auch einen Job bei einem parteinahen Kulturinstitut an. Jessica lehnt ab, wirft ihn aus der Wohnung und beschließt Rache.
Der Flug nach Hamburg hat die Zeitschrift Stern zum Ziel, sie will Machenschaften der Gruppe um Gerhard Hollitzer an die Öffentlichkeit bringen. Nicht das Fesseln von Mia, dafür gibt es keine Beweise, aber wegen einer Orgie im Semmering-Hotel Panhans nach einem Zukunftsseminar, als auf Parteikosten slowakische Sexarbeiterinnen bestellt wurden. Den Originalbeleg hat sie erschleichen können (dass sie sich als eine Parteiangestellte hat ausgeben können, ist doch etwas unrealistisch - "es hat ja nichts gekostet, sich als Assistentin von der Frau Golz-Glaser zu verkleiden"; die Info hatte sie von einem ehemaligen Sicherheitsbeamten). Nun hofft sie, dass der Stern dies veröffentlicht. Vorwurf: Mitwirkung beim Frauenhandel. Ob ihr dies gelingt - das erfahren wir nicht. Der Roman endet bei der Landung in Hamburg.
Die Monologe Jessicas sind ohne jeglichen Punkt gestaltet, es soll ein Bewusstseinsstrom kreiert werden, nur Kommas werden gesetzt. Dies erschwert den Zugang zum Text schon erheblich. Schnitzlers Monologe sind dahingehend lesefreundlicher.
Problematisch ist der Roman in mehrfacher Hinsicht:
- Die Sexszenen können in jedem Romanporno erscheinen, und die Sprache Jessicas ist bezüglich Sexualität sehr eingeschränkt und auf unterstem Niveau (so wird das männliche Sexualorgan durchgehend als "Schwanz" bezeichnet, ein anderes Wort ist mir nicht aufgefallen). Dies verwundert bei einer hochbelesenen Kulturwissenschafterin (es finden sich viele Literaturreferenzen im Werk) und passt mit dem Rest des Textes nicht zusammen.
- Die Sprache Gerhard Hollitzers ist hölzern. Seine Dialogbeiträge hinterlassen einen unwirklichen Eindruck.
- Die Geschichte von Mia ergibt keinen Sinn. Ihre Darstellung bleibt zweifelhaft, auch ist sie für den weiteren Verlauf nicht relevant. Sie ist nur der Aufhänger, um Gerhard zu provozieren. Selber sagt Jessica: "dass sich die Mia halt nicht so auf Sadomaso einlassen hätte sollen, wenn sie es dann nicht verträgt"
- Der unfassbare Neid auf die Herausgeberin der Frauenzeitschrift, bei der sie tätig ist, zieht den Charakter Jessicas in zweifelhaftes Licht. So habe sie ihr "1.000 Ideen geklaut" und am liebsten würde sie ihr deshalb das Büro zertrümmern.
- Die unflätige Beschimpfung der damaligen österreichischen Bildungsministerin im Realnamen ist außerhalb jeglichen Kontextes und wirkt geschmacklos.
- Da der konservativen ÖVP zugetraut wird, den (real existiert habenden) Bombenbauer Fuchs beauftragt zu haben, Briefbomben zu verschicken (reales, schwerverletztes Opfer war der Wiener SPÖ-Bürgermeister Zilk), und somit impliziert wird, sie könne eine Terrororganisation sein, wird gleichzeitig jegliche berechtigte Kritik an dieser Partei ad absurdum geführt.
Aus der Idee hätte ein großartiger Roman werden können, aber die absurden Übersteigerungen und die vulgäre Sprache vernichten sie.