Reiss-Fenster

Die nun 93-jährige, in den USA lebende niederländische Autorin Johanna Reiss hat den Holocaust in einem Versteck auf einem Bauernhof überleben können und hat 1972 ihre Kindheitserlebnisse im Versteck zu einem Roman verarbeitet. Die erste deutsche Übersetzung 1975 war noch gekürzt und die Namen wurden nicht genannt, 2015 hat DTV eine wortgetreue Übersetzung veröffentlicht, die ich nun gelesen habe.

Johanna Reiss (Annie) stammt aus Winterswijk, einem kleinen Ort im Osten der Niederlande, ihr Vater ist Viehändler. Als jüdische Familie beobachten sie genau, wie in Deutschland die Verfolgung von Jüd:innen immer aggressiver wird und Nachbarländer in die Tasche gesteckt werden. Eine Familie von Verwandten schafft es noch, in die USA emigrieren zu können, Annies Familie bleibt, vor allem da die an schweren Kopfschmerzen leidende Mutter nicht ausreisen will, was zu Streitigkeiten mit ihrem Vater führt, doch dieser beugt sich dem Wunsch seiner Frau.

Als die Niederlande von der deutschen Wehrmacht besetzt werden, kommunizieren die Besatzer über Aushänge auf einem Baum am Hauptplatz des Ortes. Die Diskriminierungen werden schrittweise verschärft, erst langsam wird den Bewohner:innen die Härte und Schärfe der Maßnahmen bewusst. Zunächst muss Annie an eine jüdische Schule, Einkaufszeiten werden beschränkt, die Einwohner:innen registriert und schließlich beginnen die Besatzer, jüdische Menschen nächtens abzuholen und in Lager zu stecken bzw. ins KZ Mauthausen zu transportieren. Auch gibt es Gerüchte über polnische Lager, doch deren wahre Bestimmung ist niemandem bewusst. Visa für die USA sind nun nicht mehr möglich und ein Versuch des Vaters, in die Schweiz zu fliehen und die Familie nachzuholen, scheitert an der Schweizer Einreisesperre.

Die nächtlichen Razzien sind der Grund, warum der Vater sich um Verstecke kümmert, und sein Netzwerk, das er als Viehhändler aufgebaut hat, kommt ihm zu Gute. Anni kommt mit ihrer zehn Jahre älteren Schwester Sini bei einem Grundbesitzer (Hannick) unter, der sie einem seiner Pachtbauern (Johann Oosterveld) in einer Kleinstsiedlung namens Usselo übergibt. Die größte Schwester Rachel kommt bei einem Pastor in ein Versteck und auch der Vater findet einen Unterschlupf. Alle werden die Besatzungszeit überleben, ohne gefunden zu werden. Nur die Mutter verstirbt bereits sehr früh noch im Krankenhaus.

Die Erzählung konzentriert sich nun auf die Situation der beiden Schwestern Annie und Sini bei der Bauernfamilie Oosterveld (Johan, Dientje und Opoje, ihrer Mutter). Die Schwestern leben im Dachgeschoß, das sie kaum verlassen dürfen, schlafen im gleichen Raum wie die Familie. Als Versteck dient ein Zwischenraum in einem Kleiderschrank, der sie bei einer Razzia rettet.

Sehr ausführlich wird die psychische Belastung des Eingesperrtseins geschildert. Die Streitigkeiten mit der Schwester, die kindlichen Unachtsamkeiten Annies. Auch den Beziehungen mit bzw. zwischen der Gastgeberfamilie wird breiter Raum gegeben.

Als gegen Kriegsende sich deutsche Soldaten für einige Wochen einquartieren, schaut Annie einmal in die Küche und wird gesehen. Johan schafft es, sie davon zu überzeugen, dass ein Kind von Bekannten auf Besuch ist, das er sogar zum Zweck der Gegenüberstellung einlädt.

Nachrichten von der Außenwelt erhält Johan durch illegales Hören des aus England sendenden niederländischen Freiheitssenders, so sind sie über den Kriegsverlauf informiert. Dass die Lager in Polen Vernichtungslager sind, lesen sie in zirkulierenden Zeitungen einer Widerstandsgruppe.

Nachdem Arnhem ausgebombt worden ist und viele Bewohner:innen auf der Flucht sind, schafft es Johan sogar, für Sini einen gefälschten Ausweis zu besorgen und sie bei einem benachbarten Bauern als Magd unterzubringen, worüber sie überglücklich ist (und sie verliebt sich in den Sohn).

Das Warten auf die Befreiung ab der Invasion in der Normandie wird lange, vor allem als der Süden der Niederlande befreit ist und sie noch immer unter Besatzung leben müssen. Doch schließlich wird die kleine Ansiedlung von einer kanadischen Einheit befreit. Annies Familie findet wieder zueinander, sie ziehen zurück in ihr Haus nach Winterswijk und Annie wird als junge Erwachsene in die USA gehen. Der Großteil der Verwandtschaft schaffte es nicht unterzutauchen und wurde in deutschen Vernichtungslagern ermordet.

Beeindruckend ist, mit welcher Opferbereitschaft nichtjüdische Familien bereit waren, ihr Leben zur Rettung ihrer jüdischen Mitbürger:innen einzusetzen.

Wie gefährlich es war, zeigt das Beispiel einer benachbarten Bauernfamilie, die zehn jüdische Kinder versteckt hat. Sie werden entdeckt und allesamt verschleppt. Niemand von ihnen (Kindern und Gastgeberfamilie) ist je wiedergesehen worden. Aber die Reaktion der Widerstandsbewegung ist prompt und brutal. Johan scheint Mitglied gewesen zu sein. Die Familie ist verraten worden und der Verräter ist bekannt. Johan erhält von Hannick eine Pistole und den Auftrag, den Verräter zu erschießen. Er tut es binnen eines Tages. Die Rache der Deutschen: Sie nehmen Geiseln und würden sie unter der Bedingung freilassen, wenn der Mörder sich meldet. Johan meldet sich nicht. Alle Geislen werden erschossen, nachdem ihnen die Finger gebrochen worden sind. Erzählt ist diese Passage sehr nüchtern.
Es war sehr spät und sehr finster, als Herr Hannink wieder zu uns kam. Er müsse Johan etwas Wichtiges fragen, sagte er, etwas, was mit dem Bauern und den zehn Juden zu tun hatte, die sie erwischt hatten.
»Setzen Sie sich«, sagte Johan ernst.
»Jemand hat den Deutschen einen Tipp gegeben«, sagte Herr Hannink. »Die wussten, dass die ganzen Juden da waren, und kannten ihr Versteck.« Er senkte die Stimme noch weiter. »Und ich weiß, wer dieser Jemand ist.«
Wir beobachteten seinen Mund. Was würde er als Nächstes sagen?
Er räusperte sich. »Dieser Mann muss weg, bevor er noch mehr Unheil anrichtet.« Seine Augen blieben an Johan hängen. »Traust du dir das zu?«
Dientje ging hinüber zu Johan. Drohend baute sie sich vor ihm auf.
»Nun ja«, sagte Johan zögerlich, »um ehrlich zu sein, Herr Hannink, eigentlich hab ich noch nie jemanden umgebracht.«
»Gottogottogott«, sagte Opoe.
Schwierig wäre es nicht, erklärte Herr Hannink. »Ich geb dir einen Revolver. Du kannst dich im Graben neben seinem Haus verstecken und warten, bis er rauskommt. Sobald du ihn erschossen hast, verschwindest du.«
Langsam schüttelte Johan den Kopf. »Wenn mir irgendwas zustößt, dann drehen die Frauen hier durch«, sagte er.
Dientje ging zurück zu ihrem Stuhl.
Ein paar Tage darauf kam ein Junge vorbei. Er wolle mit Oosterveld über einen Auftrag reden, der erledigt werden müsse, sagte er. Er zeigte Johan einen Zettel, den Herr Hannink unterschrieben hatte.
Er blieb noch eine Weile und zog dann mit dem Revolver und den Anweisungen ab, die Herr Hannink Johan erteilt hatte.
Es dauerte nur einen Tag. Die Deutschen waren sehr wütend. Warum war so ein guter Mann nur totgeschossen worden? Um zu zeigen, wie wütend sie waren, verhafteten sie eine Anzahl Leute. Die lassen wir frei, sobald sich der Mörder unseres Freundes stellt, sagten sie.
Als er das nicht tat, wurden die Geiseln auf der Hauptstraße von Usselo gefunden, erschossen. Man hatte ihnen die Finger gebrochen.
Da wurden wir sehr still, vor allem Johan.
Auch die Schilderung, dass gegen Ende der Besatzung die deutschen Soldaten immer brutaler mit der niederländischen Bevölkerung umgegangen ist, geht an die Grenze des Erträglichen.
Die Soldaten wurden gemeiner und gemeiner, und die Angst war größer denn je, bei allen, vor allem und jedem.
An einem Abend waren Soldaten in Amsterdam in die Kinos marschiert. Sie hatten das Licht angedreht, um zu sehen, welche Männer jung genug waren, um nach Deutschland zu gehen. Es gab immer noch so viel Arbeit zu tun für Deutschland, und nicht genug Deutsche dafür. Auch nicht genug Juden. Aber holländische Nichtjuden, die gab es noch. Nach diesem Abend ging kein Mann mehr ins Kino, aber das nützte auch nichts. Die Soldaten suchten auch anderswo: in Kirchen, in Zügen. Wenn sie sich aufregten, weil sie nicht genug Männer zum Mitnehmen fanden, dann schossen sie auf die Passanten auf der Straße.
Streckenweise ist es ein sehr beklemmendes Buch, auch wenn die Familie es schafft zu überleben.