Helfer-Bagage

2020 erschien dieser wohl autobiographisch geprägte Roman der österreichischen Schriftstellerin Monika Helfer, in dem die Ich-Erzählerin der Frage nachgeht, ob ihr Großvater auch der leibliche Vater ihrer Mutter sei.

Die Großeltern (Maria und Josef Moosbrugger) leben in einem kleinen Haus mit wenig Tieren im hintersten Teil, dem Schattengebiet, eines Vorarlberger Tals, sind arm, werden "die Bagage" genannt, aber stets wird hervorgehoben, dass beide durch ihre Schönheit und Sauberkeit hervorstechen, anders sind als die Bauern oder Dörfler.
Sie wäscht oft, die Sachen der Kinder und die ihres Mannes und ihre Sachen, sie besitzt eine besonders schöne weiße Bluse. Sie möchte, dass ihre Familie sauber ist wie die Familien in der Stadt. Sie hat viele weiße Sachen, da kommen ihre dunklen Haare und dunklen Augen und die dunklen Haare und die dunklen Augen ihres Mannes gut zur Geltung. Die anderen unten im Dorf tragen selten Weiß, manche nicht einmal am Sonntag. Ein ernstes Gesicht hat sie, tiefe Augen. Die Augen male mit Kohlestift! Die Haare liegen eng am Kopf, sie sind schwarz, mit Braun gemischt, weil der Kohlestift abgebrochen ist. Die guten Buntstifte glänzen nicht und sind außerdem teuer.

Die Wirklichkeit weht hinein in das Bild, kalt und ohne Erbarmen, sogar die Seife wird knapp. Die Familie ist arm, gerade zwei Kühe, eine Ziege. Fünf Kinder. Der Mann, schwarzhaarig wie die Frau, lackglänzend seine Haare sogar, ein Schöner ist er, doppelt so schön wie die anderen. Ein schmales Gesicht hat er, aber ohne Freude, wie es scheint. Die Frau, gerade noch dreißig ist sie, sie weiß, dass sie den Männern gefällt, nicht einen kennt sie, bei dem sie nicht sicher ist. ...

Sie wohnten dort, weil ihre Vorfahren später gekommen waren als die anderen und der Boden am billigsten war, und am billigsten war der Boden, weil die Arbeit auf ihm so hart war. Am letzten Ende hinten oben wohnten Maria und Josef mit ihrer Familie. Man nannte sie »die Bagage«. Das stand damals noch lange Zeit für »das Aufgeladene«, weil der Vater und der Großvater von Josef Träger gewesen waren, das waren die, die niemandem gehörten, die kein festes Dach über dem Kopf hatten, die von einem Hof zum anderen zogen und um Arbeit fragten und im Sommer übermannshohe Heuballen in die Scheunen der Bauern trugen, das war der unterste aller Berufe, unter dem des Knechtes.
Der Großvater, der gut rechnen kann, übernimmt die Buchführung des Bürgermeisters, eines Gewehrproduzenten, und hat mit ihm wohl illegale "Geschäfte" laufen.

Als der Großvater 1914 an die Isonzo-Front eingezogen wird, beauftragt er den Bürgermeister, auf seine Frau "aufzupassen". Er versorgt sie und die Kinder mit Lebensmittel, und als er sie zum Viehmarkt in einer benachbarten Kleinstadt mitnimmt, verliebt sich Maria in einen jungen Mann aus Hannover, der sich als flüchtiger Bankräuber ausgibt. Dieser besucht sie auch zweimal am Hof, und im Dorf geht das Gerücht, dass sie nicht von ihrem Mann (der zweimal auf Fronturlaub ist), sondern von diesem deutschen Georg.

1918 kommt Josef aus dem Krieg zurück, er trägt neue und teure Kleidung, scheint also auch an der Front "Geschäften" nachgegangen zu sein. Schon bei seinen beiden Fronturlauben hat er Bündel von Geldscheinen mitgebracht, die im Text jedoch untergehen. Wir erfahren nicht, ob das Geld ausgegeben wird, und auch nicht, was damit geschehen ist, als er verstorben ist.

Josef hört von den Gerüchten, dass Margarethe nicht sein Kind sei, und Gottlieb Fink - der Bürgermeister, der nun nicht mehr Bürgermeister ist - erklärt eigenartigerweise, dass er der Vater des Kindes sei, obwohl seine Zudringlichkeiten abgewehrt worden sind und er danach die Versorgung der Familie eingestellt hat, sodass Lorenz, eines der Kinder, die Vorratskammer der Familie eines Schulfreundes bei einem Einbruch ausgeräumt hat. Die Zudringlichkeit wird so erzählt:
Aber vom Bürgermeister wollte sie sich nichts erzählen in ihren Gedanken. Er hatte ihr die Bluse aufgeknöpft, elf Knöpfe, um an ihren Busen heranzukommen, und dabei hatte er ihr vorgesponnen, wie es wäre, wenn Josef von dem Mann aus Hannover erführe. Und Maria hatte die Augen geschlossen und abgewartet. Je eine Hand hatte er auf ihre Brüste gelegt. Und dann hatte er in den Bund ihres Rocks gegriffen, nicht tief, weil sie geblinzelt hatte. Das hatte genügt. Geblinzelt, und der Bürgermeister war erschrocken, hatte die Hände hinter seinen Rücken gerissen. Wie viel, dachte Maria, muss ich mir gefallen lassen, damit unser Leben durch seine Gaben erleichtert wird und er den Mund hält.
Josef wird mit dem Kind, Margarethe, bis zu seinem Tod kein Wort reden, auch wenn im Text hervorgehoben wird, dass er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der leibliche Vater ist.

Maria (Blinddarm) und Josef (Blutvergiftung) sterben beide früh, die Kinder werden Waisen, leben weiterhin im elterlichen Haus, einer der Brüder, Lorenz, beginnt zu wildern, ist gefürchtet und niemand klagt ihn an. Da nun die Perspektive der Großmutter, deren Sehnsucht nach Männern immer wieder thematisiert ist wie auch dass die Familie das Angebot eines Schwagers nicht angenommen hat, in einer Stadt eine Stickerei zu gründen, verloren ist, wird skizzenartig das weitere Leben der Geschwister nachgezeichnet.

Da dies erzählstrukturell mittels Zeitsprüngen in den Roman eingebaut ist, sind diese Lebensskizzen etwas schwierig nachzuvollziehen. Der Fokus der Erzählung geht zum Teil verloren und eigentlich würde jede einzelne Figur einen eigenen Text verdienen. Dennoch ist dies eine nicht uninteressante Lektüre, vor allem über die Lebensverhältnisse am Rand der österreichischen Gesellschaft während des Ersten Weltkriegs, auch wenn die Schönheits- und Sauberkeitsmetapher für letztlich gute Menschen zu oft verwendet und daher eher zum Klischee wird.