Wahrheit
01.10.2010 um 21:50Vergleichen Sie Mathematik und politische Wissenschaften — es ist ziemlich auffallend. In der Mathematik, in der Physik beschäftigen sich die Leute mit dem, was man sagt, nicht mit den Beglaubigungen, die man hat. Aber um über gesellschaftliche Realität zu sprechen, muß man die richtigen Zertifikate haben, insbesondere wenn man vom herrschenden Denksystem abweicht. Ganz allgemein gesprochen, scheint es gerechtfertigt zu sein, wenn man sagt, je reicher die intellektuelle Substanz eines Gebietes ist, desto weniger besteht ein Interesse an Qualifikationsnachweisen und desto größer ist das Interesse am Inhalt. - Noam Chomsky, nach: Sokal/Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. 2001 (zuerst 1998)
Wahrheit (2) Man braucht nicht immer alles zu sagen, denn das wäre Torheit; aber was man sagt, soll sein, wie man es denkt, sonst ist es Arglist. Ich weiß nicht, welchen Nutzen die Leute davon erwarten, sich beständig zu verstellen und zu verkappen, wo nicht, daß man ihnen selbst dann nicht glaubt, wenn sie die Wahrheit sagen; man kann die Menschen einmal oder zweimal hintergehen; aber ein Gewerbe daraus zu machen, sich hinterm Berge zu halten, und sich dessen rühmen, wie es einige unserer Fürsten getan haben, daß sie ihr Hemd ins Feuer werfen würden, wenn es von ihren wahren Absichten wüßte ( was ein Wort des alten Metellus Macedonicus ist), und daß, wer sich nicht zu verstellen wisse, nicht zu herrschen verstehe, das heißt, die im voraus warnen, die mit ihnen umzugehen haben, daß alles eitel Lug und Trug ist, was sie sagen. Der müßte ein einfältiger Tropf sein, der sich von den schönen Augen und Worten dessen foppen ließe, der sich brüstet, sich nach außen immer anders zu zeigen, als er inwendig ist, wie es Tiberius tat: und ich weiß nicht, welchen Anteil solche Leute an der menschlichen Gesellschaft haben können, die nichts vorbringen, was für bare Münze genommen würde. Wer die Wahrheit verrät, verrät auch die Lüge. - (mon)
Wahrheit (3)
THESEUS ... Mehr wundervoll als wahr.
Ich glaubte nie an diese Feenpossen
Und Fabelein. Verliebte und Verrückte
Sind beide von so brausendem Gehirn,
So bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt,
Was nie die kühlere Vernunft begreift.
Wahnwitzige Poeten und Verliebte
Bestehn aus Einbildung. Der eine sieht
Mehr Teufel, als die weite Hölle faßt,
Der Tolle nämlich; der Verliebte sieht
Nicht minder irr: die Schönheit Helenas
Auf einer äthiopisch braunen Stirn.
Des Dichters Aug, in schönem Wahnsinn rollend,
Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd hinab,
Und wie die schwangre Phantasie Gebilde
Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt
Das luftge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.
So gaukelt die gewaltge Einbildung;
Empfindet sie nur irgendeine Freude,
Sie ahnet einen Bringer dieser Freude.
Und in der Nacht, wenn uns ein Graun befällt,
Wie leicht, daß man den Busch für einen Bären hält!
- Shakespeare, Ein Sommernachtstraum
Wahrheit (4) Es gibt wenig Begriffe, über die so viele Gerüchte im Umlauf sind, wie über den der Wahrheit. Man sagt andern ›die Wahrheit‹, wenn man grob gegen sie wird. Viele verbinden mit dem Begriff der Wahrheit den des Edlen. Das Gegenteil der Wahrheit soll die Unwahrheit sein, die man sagt, wenn man lügt, auch wenn diese Lüge in den Himmel führt. Die Wahrheit beansprucht ewig und göttlich zu sein. Ich aber sage Euch die Wahrheit: »Die Wahrheit ist eine Flüssigkeit.«
Sie denken an Wein. Im Wein liegt Wahrheit. Da aber im Wein nur Flüssigkeit liegt, müßte sie ja wohl oder übel eine Flüssigkeit sein. Doch bin ich der Ansicht, daß die Wahrheit mehr eine dem Erdöl verwandte Flüssigkeit ist. Dafür kann ich Beweise erbringen.
Eine mir bekannte kompetente Persönlichkeit sagte neulich zu mir: »Ich habe mir immer schon gewünscht, die Leute anbohren zu können, um dann die Wahrheit herauszubekommen. « Er sagte es wörtlich so, und deshalb glaube ich ihm, daß dieses Experiment gelingen würde, wenn es seitens der Regierung erlaubt wäre, eine Vivisektion an Menschen vorzunehmen, zwecks Hebung der Wahrheit.
Diese Wahrheit würde dann aus der Bohrstelle spontan ausfließen, was wieder beweist, daß Wahrheit eine Flüssigkeit ist.
Nun habe ich mich gefragt, wenn Wahrheit im Menschen ist, weshalb kommt sie nicht aus den vielen schon vorhandenen Löchern geflossen, die man nicht erst zu bohren brauchte. Da sind zunächst einmal eine Legion von Poren, die braucht man nicht zu bohren. Das aber ist wieder wie mit dem Petroleum, welches auch aus vielen vorhandenen Löchern fließen könnte, z. B. aus der Wasserleitung oder aus dem Kanal, ohne daß es das täte. Nein, Petroleum und Wahrheit wollen sich bohren lassen.
Nun könnte aber doch einmal eine vorhandene Öffnung der Wahrheit den Lauf geben, etwa wie doch per Zufall Petroleum auch aus der Wasserleitung strömen könnte. Es könnte z. B. der Mund die Wahrheit verkünden. Was tut aber der Mund? Er frißt und frißt, und wenn er einmal etwas von sich gibt, so ist es meistens gerade, oder auch ungerade, um besagte Wahrheit zu verhüllen. Oder die Ohren. Ja, sie leiten wenigstens die hineingefüllte Wahrheit wieder hinaus, denn wenn Sie einem die Wahrheit sagen, pflegt sie ins eine Ohr hinein- und aus dem anderen wieder herauszugehen. Die Augen aber sehen geschickt um die Wahrheit herum, selbst wenn die Wahrheit noch so dick aufliegt. - Kurt Schwitters, 1925
Wahrheit (2) Man braucht nicht immer alles zu sagen, denn das wäre Torheit; aber was man sagt, soll sein, wie man es denkt, sonst ist es Arglist. Ich weiß nicht, welchen Nutzen die Leute davon erwarten, sich beständig zu verstellen und zu verkappen, wo nicht, daß man ihnen selbst dann nicht glaubt, wenn sie die Wahrheit sagen; man kann die Menschen einmal oder zweimal hintergehen; aber ein Gewerbe daraus zu machen, sich hinterm Berge zu halten, und sich dessen rühmen, wie es einige unserer Fürsten getan haben, daß sie ihr Hemd ins Feuer werfen würden, wenn es von ihren wahren Absichten wüßte ( was ein Wort des alten Metellus Macedonicus ist), und daß, wer sich nicht zu verstellen wisse, nicht zu herrschen verstehe, das heißt, die im voraus warnen, die mit ihnen umzugehen haben, daß alles eitel Lug und Trug ist, was sie sagen. Der müßte ein einfältiger Tropf sein, der sich von den schönen Augen und Worten dessen foppen ließe, der sich brüstet, sich nach außen immer anders zu zeigen, als er inwendig ist, wie es Tiberius tat: und ich weiß nicht, welchen Anteil solche Leute an der menschlichen Gesellschaft haben können, die nichts vorbringen, was für bare Münze genommen würde. Wer die Wahrheit verrät, verrät auch die Lüge. - (mon)
Wahrheit (3)
THESEUS ... Mehr wundervoll als wahr.
Ich glaubte nie an diese Feenpossen
Und Fabelein. Verliebte und Verrückte
Sind beide von so brausendem Gehirn,
So bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt,
Was nie die kühlere Vernunft begreift.
Wahnwitzige Poeten und Verliebte
Bestehn aus Einbildung. Der eine sieht
Mehr Teufel, als die weite Hölle faßt,
Der Tolle nämlich; der Verliebte sieht
Nicht minder irr: die Schönheit Helenas
Auf einer äthiopisch braunen Stirn.
Des Dichters Aug, in schönem Wahnsinn rollend,
Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur Erd hinab,
Und wie die schwangre Phantasie Gebilde
Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gestaltet sie des Dichters Kiel, benennt
Das luftge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.
So gaukelt die gewaltge Einbildung;
Empfindet sie nur irgendeine Freude,
Sie ahnet einen Bringer dieser Freude.
Und in der Nacht, wenn uns ein Graun befällt,
Wie leicht, daß man den Busch für einen Bären hält!
- Shakespeare, Ein Sommernachtstraum
Wahrheit (4) Es gibt wenig Begriffe, über die so viele Gerüchte im Umlauf sind, wie über den der Wahrheit. Man sagt andern ›die Wahrheit‹, wenn man grob gegen sie wird. Viele verbinden mit dem Begriff der Wahrheit den des Edlen. Das Gegenteil der Wahrheit soll die Unwahrheit sein, die man sagt, wenn man lügt, auch wenn diese Lüge in den Himmel führt. Die Wahrheit beansprucht ewig und göttlich zu sein. Ich aber sage Euch die Wahrheit: »Die Wahrheit ist eine Flüssigkeit.«
Sie denken an Wein. Im Wein liegt Wahrheit. Da aber im Wein nur Flüssigkeit liegt, müßte sie ja wohl oder übel eine Flüssigkeit sein. Doch bin ich der Ansicht, daß die Wahrheit mehr eine dem Erdöl verwandte Flüssigkeit ist. Dafür kann ich Beweise erbringen.
Eine mir bekannte kompetente Persönlichkeit sagte neulich zu mir: »Ich habe mir immer schon gewünscht, die Leute anbohren zu können, um dann die Wahrheit herauszubekommen. « Er sagte es wörtlich so, und deshalb glaube ich ihm, daß dieses Experiment gelingen würde, wenn es seitens der Regierung erlaubt wäre, eine Vivisektion an Menschen vorzunehmen, zwecks Hebung der Wahrheit.
Diese Wahrheit würde dann aus der Bohrstelle spontan ausfließen, was wieder beweist, daß Wahrheit eine Flüssigkeit ist.
Nun habe ich mich gefragt, wenn Wahrheit im Menschen ist, weshalb kommt sie nicht aus den vielen schon vorhandenen Löchern geflossen, die man nicht erst zu bohren brauchte. Da sind zunächst einmal eine Legion von Poren, die braucht man nicht zu bohren. Das aber ist wieder wie mit dem Petroleum, welches auch aus vielen vorhandenen Löchern fließen könnte, z. B. aus der Wasserleitung oder aus dem Kanal, ohne daß es das täte. Nein, Petroleum und Wahrheit wollen sich bohren lassen.
Nun könnte aber doch einmal eine vorhandene Öffnung der Wahrheit den Lauf geben, etwa wie doch per Zufall Petroleum auch aus der Wasserleitung strömen könnte. Es könnte z. B. der Mund die Wahrheit verkünden. Was tut aber der Mund? Er frißt und frißt, und wenn er einmal etwas von sich gibt, so ist es meistens gerade, oder auch ungerade, um besagte Wahrheit zu verhüllen. Oder die Ohren. Ja, sie leiten wenigstens die hineingefüllte Wahrheit wieder hinaus, denn wenn Sie einem die Wahrheit sagen, pflegt sie ins eine Ohr hinein- und aus dem anderen wieder herauszugehen. Die Augen aber sehen geschickt um die Wahrheit herum, selbst wenn die Wahrheit noch so dick aufliegt. - Kurt Schwitters, 1925