Aphila fühlte sich elend. Nach ihrer Transformation hatte sie ihr Bruder rücksichtslos mitgeschleift, ohne auf ihre enorme Erschöpfung zu achten. Ihr ganzer Körper brannte, so fühlte es sich an. Er hatte sie tatsächlich gezwungen, aber was sollte sie von einem Dämon auch erwarten. Es galt sich der Situation anzupassen um zu überleben. Vermutlich hatte er ihr damit sogar das Leben gerettet, dennoch war sie sauer darüber WIE er das tat. Das war jetzt jedoch zweitrangig, viel entscheidender – er war von ihr abhängig. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte er sich nicht die Mühe gemacht sie aufzusuchen und zu zwingen. Das wiederum hieß, er musste sie gut genug behandeln damit sie ihm nützlich sein konnte. Er war momentan stärker, das war ihr bewusst. Also spielte sie das Spiel erzwungenermaßen mit.
„Bei Anbruch der Nacht erreichen wir ein Menschenlager. Ich habe sie entdeckt, bevor ich zu dir kam. Dort besorgen wir uns Kleidung für dich. Außerdem können wir mal sehen, wie sie auf unsere Gestalten reagieren und vielleicht haben wir sogar Glück und Menschenfleisch schmeckt auch in dieser Form noch gut“, erklärte er ihr mit breitem Grinsen, dass seine Zähne zum Vorschein kamen. Dämonen ernährten sich seit dem Ausbruch der Apokalypse nicht länger von Seelen, sondern vom Körper des Menschen selbst. Das hatte damit zu tun, dass deren Seelen schon zu Anfang der Apokalypse etwa in den Himmel beziehungsweise ins Paradies der Menschen oder die Hölle gewandert waren. Die Körper, die zurückblieben verfielen etwa in Wahnsinn, folgten ihren innersten Instinkten – was sie mehr denn je zu Tieren werden ließ – oder blieben ganz normal. Letztere Sorte gab etwas Rätsel auf, aber vermutlich hatten sich deren Seelen aus irgendwelchen Gründen nicht vom Körper lösen können. Zur gleichen Zeit, wie das Austreten der Seelen waren Engel und Dämonen plötzlich fleischlich geworden und wandelten nun wie Sterbliche auf Erden, oder jeweils in ihrem Reich. Wieso das alles so kam, war bisher noch ein absolutes Rätsel. Jedoch war damit der Startschuss zur Hauptschlacht zwischen Himmel und Hölle gefallen. Die Dämonen waren in Massen auf die Erde eingefallen und sicherten sich Territorien, während die Engel versuchten eben jene von der Erde zu tilgen und die letzten zurück gebliebenen Seelen ins Paradies zu führen. Allerdings boten diese letzten Seelen auch einen netten Energiebonus für Dämonen und darum waren sie heißbegehrt.

Somit war die Kunde über ein Menschenlager durchaus erfreulich. In weiter Ferne war nach einem langen Marsch in der inzwischen typischen Wüstenlandschaft der Erde eine Anhäufung von Zelten rundherum um ein Lagerfeuer zu sehen. Gerade als sie nah genug waren, dass man die Menschen sehen konnte, verkündete Methos seinen Plan: „Ich habe keine Ahnung, wie viel diese Menschlein von den neuen Möglichkeiten unsererseits wissen. Heißt, wir versuchen erst mal wie Engel aufzutreten. Das wird sicher ein witziges Spiel.“ Aphila musste zugeben, damit war sie in ihrem Element. Sie war die mitfühlende Verführerin, den Menschen einen Engel vorzuspielen sollte nicht das Problem sein. „Nimm meine Hand, ich habe schon den Einen oder Anderen neuen Trick dieser Gestalt heraus. Es kommt aber dumm, wenn ich denen eine große Show biete und du normal an getapst kommst“, bot er ihr seine Hand. Sie wusste, das war kein Angebot, das war ein Befehl. Sie nahm also seine Hand und plötzlich, ohne jede Vorwarnung fühlte sie, wie sie in einen heißen Sog gezogen wurde und ihr Körper seine Konturen verlor.

Nichts von den beiden nahenden Wesenheiten ahnend, kauerte Rufus im Schein des Lagerfeuers und grübelte über seine Notizen. Er war Mitte 20, durchschnittlich groß, hatte einen anfänglichen Bart, braune Haare, die auf Ohrenhöhe lagen und blaue Augen. Seine Notizen erinnerten ihn an ein Leben, weit weg von diesem Ort. Damals war das größte Problem der Menschen noch, wer das aktuellere Handy hat und beklagte sich noch über zu hohe Spritpreise. Mit einem verbitterten Lächeln, dachte er sich wie schön diese Zeiten noch waren. Inzwischen war es das größte Geschenk, eine halbwegs saubere Trinkwasserstelle zu finden. Wie schnell sich der Begriff Luxus verändern konnte. Er schaute sich um, es war nicht einmal mehr die Hälfte der ursprünglichen Gruppe übrig. Sie alle waren am Ende, der Mut war schon lange ausgewandert. Manche von ihnen wirkten sogar komplett weggetreten, wurden quasi vom Rest der Leute regelrecht mitgeschleppt. Wie viel Sinn es noch machte, diese armen Hunde durchzufüttern war für ihn wenig ersichtlich. Alles was sie besaßen waren diese Zelte, zwei Laib Brot und eine Tagesration Wasser für jeden. Der Rest war privater Schnickschnack wie seine Notizen. Nichts mehr wert, aber dennoch ein persönliches Juwel. Er seufzte. Man hörte, das hier sollte die Apokalypse Gottes sein. Wenn das so war, fragte er sich wirklich, warum er in der Scheiße sitzen musste statt im Paradies sorglos vor sich hin zu träumen.

Genau in diesem Augenblick stieg ein sternenhelles Licht vom Himmel. Die gerade erst untergegangene Sonne wurde vom Licht dieser Erscheinung ersetzt. Allerdings tat das Licht trotz seiner Kraft nicht in den Augen weh. Vielmehr fühlte Rufus Trost im Angesicht der Erlösung. Er rappelte sich sofort auf und rief die restliche Gruppe zusammen, die teilweise schon am Schlafen war. „Engel! Die Gerüchte sind wahr! Sie haben uns gefunden!“, rief er in jedes Zelt. Währenddessen preschte die Lichtkugel immer tiefer vom Himmel, bis sie wenige Meter über dem Lager zum Stillstand kam. Die von Rufus aufgeschreckten Gruppenmitglieder kamen verschlafen und verwirrt aus ihren Zelten getorkelt und verstanden die Welt nicht mehr. Sie alle glotzten völlig verdutzt auf die noch immer leuchtende Erscheinung. Plötzlich gab es ein angenehmes Geräusch von Glockenschlägen und die Lichtkugel brach auf und gab die Sicht auf zwei Personen frei. Die Eine war ein Mann mit zerfetztem schwarzem Umhang und die Andere eine nackte Frau, beide hatten schwarze Flügel. Schließlich sank das Licht mit den beiden zu Boden und verschwand. Zurück blieben der Mann und die Frau, genau vor der Menschengruppe stehend. Jeder sah sie schockiert an.

„Seid gegrüßt, meine Erdenkinder!“, sprach der Mann mit ausgebreiteten Armen, „Wir sind Diener des Herrn und gekommen, um euch Trost und Frieden zu schenken. Sagt mir, wer von euch ist euer Anführer?“ Rufus trat hervor: „Das bin dann wohl ich. Was genau wollt ihr von uns?“ Er war zwar ebenso baff über ihre Besucher, aber in Zeiten wie diesen lernte man mit Schocks anders umzugehen – nur so war das Überleben möglich. Der Engel sprach weiter: „So will ich dir verkünden: Euer Leiden hat ein Ende! Wir sind geschickt worden, euch ins gelobte Paradies zu führen. Allerdings, wie ihr sehen könnt, sind wir alles andere als angemessen bekleidet. Unsere Gewänder wurden im Kampf gegen die Herrscharen der Hölle zerfetzt und meine Begleiterin hier, hat nicht ein Stück Stoff über behalten. Es wäre uns daher eine große Bitte und ein großer Gefallen uns würdige Kleidung zu gewähren.“ Ganz geheuer war Rufus dieser Typ nicht. Allerdings war es ihre beste und wohl auch einzige Chance aus dieser Hölle auszubrechen. So befahl er passende Sachen zusammenzusuchen, um die Engel damit auszustatten. Zum Glück hatte eine junge Dame als Erinnerung an ihren verstorbenen Mann eine schickte Militär-Uniform in der richtigen Größe aufbewahrt. Für die Frau sah es nicht ganz so gut aus. „Ich fürchte, alles was wir euch entbehren können ist dieses weiße Lacken“, bekundete Rufus und bot ihr dieses dar. Sie erwiderte: „Guter Mann, dies reicht vollkommen. Solange die nackte Haut unsichtbar fürs bloße Auge bleibt, hat die Kleidung ihren Zweck getan.“ Sie zog sich das Laken über, jedoch nicht ehe sie erst Löcher für ihre Flügel hineinriss. Sie sah darin wirklich gut aus, auch wenn es einem Engel natürlich nicht gerecht wurde. Nachdem sie fertig angezogen waren, sprach der Mann wieder: „Da wir jetzt angemessen bekleidet wurden, wäre es eigentlich möglich mit euch vor die Himmelstore zu treten. Allerdings sehe ich in vielen von euren Gesichtern die Müdigkeit Überhand gewinnen und es wäre nicht so gut, wenn ihr bei der Ankunft dort oben halbschlafend herum torkelt. Daher schlage ich vor, wir beide gesellen uns heute zu euch und Morgen früh geht es ab ins Paradies.“ Das klang akzeptierbar, dachte sich Rufus und stimmte zu.

So kam es, dass sich der Mann zu der Frau dessen Uniform er trug legte und die Frau mit Rufus am Lagerfeuer verweilte. Rufus widmete sich wieder seinen Notizen. Ihm war der ungewöhnliche Besuch einfach nicht ganz koscher. Darum lenkte er sich so gut es ging von ihnen ab. Nach einer Weile bemerkte er den Blick der Frau auf sich. Als er fragend zurückblickte, sprach sie: „Entschuldige, dass ich so neugierig bin – aber mir fiel auf, dass du die meiste Zeit mit diesen Papieren verbringst. Was steht denn da so interessantes drin? Etwa wo weitere Überlebende zu finden sind?“ Er überlegte kurz, war es ratsam ihr Einblick zu gewähren? Sie war ein Engel, aber auch eine Fremde. „Nein, nichts dergleichen. Nur alte Aufzeichnungen aus der Zeit vor diesem ganzen Horror. Erinnerungen aus einem längst vergangenem Leben“, erklärte er ihr nun doch. Er wusste selbst nicht genau warum, aber es fühlte sich an als wäre sie eine gute Freundin mit der er alles bereden konnte. Sie sah interessiert drein und fragte: „Darf ich es mir vielleicht mal ansehen?“ Ehe er sich versah, hatte sie sein Notizbuch auch schon in der Hand. Ihm war nicht klar, warum er das einfach zuließ. Vermutlich ist das ihre engelhafte Ausstrahlung, dachte er. Er konnte weder ahnen, dass es ihre Verführungskraft als Dämon war und sie sich mit seinen Notizen ebenfalls sehnsüchtig an ihr Menschenleben zurückerinnerte. Als sie sich einige Seiten durchgelesen hatte, begann sie mit ihm, über sein Leben zu reden. Was er damals so erlebt hat. Wie er in der Schule war, in einen Beruf einstieg, eine Familie gründete. Sie ging mit ihm quasi sein Leben durch und je mehr Details an die Oberfläche kamen, desto besser verstanden sie sich. Sie war von seinem Leben und dem, was er aus diesem in die Apokalypse mitnahm beeindruckt. Ihre Augen strahlten richtig bei jeder seiner Geschichten.

Plötzlich hörte Rufus ein unnatürliches Knacken aus einem der Zelte. Sofort war er wieder mit all seinen Sinnen dabei. Zuerst hörte er genauer hin, um sicher zu sein. Als er immer wieder kurze Geräusche, die dem Brechen von Knochen und reißen von Fleisch ähnelten hörte, entschuldigte er sich kurz und ging der Sache nach. Die Frau, Aphila wie er inzwischen erfahren hatte, sah ihm fragend nach. Er horchte immer wieder hin und schließlich machte er den Ursprung des Geräusches aus. Es kam aus dem Zelt, in dem der Mann mit nächtigte!

Er riss das Zelt auf und was ihm bot war ein Bild, wie aus einem Horrorfilm:
Der „Engel“ hang mit dem Kopf über der Brust der Frau, sein Mund blutverschmiert. Die Kehle der Frau war wie von einem Tier aufgebissen und es floss literweise Blut aus dem Hals. Gerade war der Mann dabei, sich am Brustkorb zu laben. Rufus Herz schlug schneller, ihm wurde von dem Anblick übel. Der Mann blickte auf, offensichtlich von der Störung bei seinem Mahl verärgert fauchte er auf. Rufus hielt sich eine Hand vor den Mund und stolperte rücklings aus dem Zelt. Der Mann löste sich nach einem herzhaften Schmatzer von der Leiche und kam nun mit immer schnelleren Schritten auf Rufus zu. Gerade als er schon mit seinem Leben abgeschlossen hatte, ging eine Stimme dazwischen: „Halt!! Methos, hör auf! Du hast deinen Hunger doch schon stillen können. Lass den Mann in Ruhe.“ Aphila trat zwischen Rufus und dem falschen Engel namens Methos. „Was hast du denn, Schwesterherz? Hast du dieses Insekt etwa liebgewonnen?“, fragte Methos nach. Aphilas Blick wanderte zu Rufus und etwas gar menschliches blitzte kurz in ihren Augen auf. „Auch du musst doch sehen können, dass er der einzige Mensch hier mit einer fest verankerten Seele ist. Er kann für uns lebendig viel mehr sein, als ein Stück Fleisch“, argumentierte sie. Daraufhin zeigte sich Methos zwar erst trotzig, doch dann meinte er: „Hast du also ein Haustier für dich gefunden. Na gut, aber weißt du was? Nicht nur du sollst deinen Spaß haben. Dieser Menschenhaufen soll Morgen erfahren, wer wir wirklich sind und was mit ihnen passieren wird, sollten sie sich widersetzen wollen zu Sklaven zu werden. Das wird sicher ein witzigeres Spiel als Engel vorzutäuschen, dann darf ich endlich wieder fies zu ihnen sein.“ Wieder war sein wahres, dämonisches Ich an seinem Gesichtsausdruck merkbar. Aphila gab nach: „Gut, so machen wir es. Für Rufus bin ich verantwortlich, den Rest kannst du als Spielzeug, Sklaven, oder Futter haben – wie immer du willst.“ Rufus traute seinen Ohren nicht, es wurde über das Leben seiner Freunde und ihm über seinen Kopf hinweg von Wesenheiten, die er nicht recht einzuordnen wusste entschieden. Zudem wusste er nicht, was sie mit „der einzige Mensch hier mit einer Seele“ meinte. Eigentlich wäre er lieber gestorben, als diesen Wesen zu dienen, doch der einzige Grund für sein Leben war es noch die wenigen Überlebenden zu beschützen – und jetzt musste er dazu eben stillschweigend hinnehmen als Sklave eingeordnet zu werden.

Methos nickte Aphilas Auffassung zu, dann verabschiedete er sich mit dem Kommentar: „Aber ich rate dir ein Stück Mensch zu probieren, der Geschmackssinn unseres neuen Ichs ist viel intensiver – man schmeckt richtig die Würze heraus.“ Wieder zurück ins Zelt. Rufus wollte nur noch verdrängen, was er darin wieder tat und sah Aphila wehmütig an. Diese erkannte, was er wollte - half ihm beim Aufstehen – und ohne ein weiteres Wort gingen sie zurück zum Lagerfeuer.




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