Er ist schlau, er studiert, er kann nicht richtig schreiben: Philipp, 25, Legastheniker, hat wie Tausende Studenten in Deutschland eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Die meisten leiden still, dabei haben sie ein Recht auf Hilfe - auch von den Unis.

Philipp Wettmann, 25, kann sich das Ergebnis seiner Prüfung nicht erklären: durchgefallen. Obwohl er gut vorbereitet war. Er bittet seinen Dozenten um ein Gespräch. Als sie die Klausur gemeinsam besprechen, macht ihn der Dozent auf die unzähligen Rechtschreibfehler aufmerksam. Wettmanns Erklärung ist nur ein Wort lang: "Legastheniker".

Der Computerlinguistik-Student aus Saarbrücken hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Das weiß er seit der Grundschule. Wettmann macht in Texten ständig Fehler, manchmal schreibt er Wörter in demselben Text auf unterschiedliche Art falsch. Oder er vergisst einzelne Buchstaben - ohne, dass es ihm auffällt. "In der dritten Klasse ließ mich meine Mutter dieselben Texte immer und immer wieder schreiben. Und jedes Mal habe ich wieder andere Fehler gemacht."

Typisch sind laut dem Bundesverband für Legasthenie auch auffallend viele Grammatik- und Interpunktionsfehler. Die Ausprägungen sind jedoch unterschiedlich, so können Lese- und Rechtschreibschwäche auch einzeln auftreten. Mit mangelnder Intelligenz hat die Schwäche nichts zu tun, auch wenn viele Rechtschreiber sich das kaum vorstellen können.

Legasthenie ist eine Behinderung

Wettmanns Dozent ahnte von alldem nichts. Auf die Erklärung von seinem Studenten reagierte er verständnisvoll, fragte, warum Wettmann ihn nicht schon vorher informiert habe. "Ich hätte nicht gedacht, dass es etwas ändern würde", sagt Wettmann im Rückblick. Mehr als 8000 Studenten leiden an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche oder der Rechenschwäche Dyskalkulie, schätzt das Deutsche Studentenwerk. Häufig wissen weder die Professoren noch die Kommilitonen davon. "Viele Studenten mit Legasthenie verheimlichen ihre Schwäche jedoch nicht absichtlich. Sie wissen einfach nicht, welche Hilfsangebote es an den Unis gibt", sagt Annette Höinghaus vom Bundesverband für Legasthenie.

Im Hochschulrahmengesetz gilt Legasthenie als Behinderung, Betroffene haben wie Blinde, Gehörlose oder psychisch Kranke ein Recht auf Nachteilsausgleich. Voraussetzung ist lediglich ein psychologisches Gutachten, das die Teilleistungsstörung des Studenten bestätigt. Weil Menschen mit Legasthenie beim Lesen länger brauchen, können sie zum Beispiel mehr Zeit für Prüfungen beantragen. Viele Hochschulen bieten auch die Möglichkeit, schriftliche in mündliche Prüfungen zu ändern oder bei Klausuren einen Computer mit Rechtschreibprogramm nutzen zu dürfen. Welchen Nachteilsausgleich man erhält, wird allerdings von Fall zu Fall entschieden. Und: Die Betroffenen müssen sich selbst darum kümmern - das Gespräch mit den Dozenten suchen und die Vereinbarungen für jede Prüfung immer wieder neu treffen.

Wettmann durfte zum Beispiel eine Seminararbeit mehrere Male abgeben und die Rechtschreibfehler verbessern, bevor die Arbeit schließlich benotet wurde. Doch auch wenn er offen mit seiner Schwäche umgeht, fällt es ihm immer wieder schwer, um eine Sonderbehandlung zu bitten. "Es fühlt sich einfach ziemlich schlecht an", sagt er. Negative Erfahrungen habe er jedoch nie gemacht: "Im Gegenteil, Kommilitonen haben mir sogar angeboten, meine Hausarbeiten Korrektur zu lesen."

Wettmann überarbeitet jeden seiner Texte mit einer Rechtschreibprüfung und zusätzlich mit einer Vorlesesoftware. So hört er Fehler, die auch eine gute Rechtschreibprüfung übersieht. Nur: "Dadurch verlangsamt sich alles", sagt er. Auch alltägliche Dinge wie das Schreiben von E-Mails dauern länger.

Viele Legastheniker schaffen es nicht bis zum Abitur

Dass Wettmann Computerlinguistik studiert, ist kein Zufall. "Das Fach hat mich gerade wegen meiner Legasthenie interessiert. Es gibt viele interessante Programme, die Leuten wie mir helfen können." Tatsächlich studieren Legastheniker häufig Natur- oder Ingenieurwissenschaften, sagt Höinghaus. Auch weil Wissen in diesen Fächern meist mündlich oder per Multiple Choice abgefragt werde. Dabei gibt es längst auch für andere Fächer Hilfsmittel.

Gute Voraussetzungen bietet etwa die Universität Würzburg, die 2012 vom Bundesverband als "Legasthenie-freundliche Hochschule" ausgezeichnet wurde. "Das Thema wird dort sehr offen kommuniziert", sagt Höinghaus. Es gebe eine Informationsschrift für Dozenten und Studenten sowie technische Hilfsmittel wie Vorlese- und Sprachsoftware. Letztere verfasse Texte aus dem, was der Nutzer einspricht.

"Das Problem ist, dass viele Legastheniker erst gar nicht bis zum Abitur kommen", sagt Höinghaus. Der Umgang mit Legasthenie und Dyskalkulie sei in einigen Bundesländern gar nicht geregelt; in anderen nur bis zur Primarstufe und meistens nicht bis zum Abitur.

Wettmann hat das Abitur geschafft. Das Studium wird er, so sieht es aus, auch packen. Im Moment bereitet er sich wieder auf die Klausur vor, die er im dritten Semester nicht bestanden hat. Doch dieses Mal weiß der Dozent Bescheid.

http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/studium-mit-legasthenie-viele-studenten-leiden-still-a-945830.html