Vera schaute wohl schon zum vierten mal auf ihren Wecker. Inzwischen war es drei Uhr und sie fand noch immer keinen Schlaf. Dabei mußte sie doch fit sein für den nächsten Tag. Wie soll ich die zwölf Stunden durchhalten, dachte sie genervt.
Vera hatte endlich Arbeit gefunden. Es war zwar nicht ihr Traumjob, aber das Geld stimmte. Und Geld, viel Geld, würde sie für ihre Pläne brauchen. Aber daran wollte sie im Moment nicht denken. Sie kuschelte sich gemütlich zurecht, atmete tief durch und wartete auf den Schlaf. Doch die Gedanken kreisten weiter.
Pünktlich neun Uhr riss sie ein aufdringlicher Weckton aus dem Tiefschlaf. Schnell lief sie ins Bad, um die Müdigkeit zu vertreiben.
Gut, dass ich die Strecke vorher ausgetestet habe, dachte sie, als sie mit ihrem alten „Käfer“, den sie liebevoll `Opi` nannte, den Berg hochzuckelte. Das Auto hatte sie von ihrem Großvater zum achtzehnten Geburtstag bekommen. Er besaß den Käfer, solange sie denken konnte und er liebte ihn über alles. Aber er liebte auch seine Enkeltochter über alle Maßen. Noch nie hatte er ihr einen Wunsch abgeschlagen. Mein Opa, mein liebster Opa, dachte sie wehmütig. Warum nur mußte er so früh sterben?
Auf dem Parkplatz an der Bergseilbahn waren noch fast alle Plätze frei. Na hoffentlich ändert sich das und es kommen recht viele Gäste zu uns hoch. Denn viele Gäste bedeudete auch viel Trinkgeld. Oben, das hieß, dort ist mein Arbeitsplatz, meine Berggaststätte. Nun freute sie sich auf den Tag. Sie würde hart arbeiten und freundlich sein. Nur so konnte sie als Bedienung bestehen.
Als sie in die leere Seilbahn einstieg, schaute sie schnell auf den Boden. Trotzdem wurde ihr ein bisschen schlecht. Diese blöde Höhenangst, mal sehen, ob ich die bekämpfen kann.
Vera war der Meinung, man kann alles im Leben erreichen, man muß dazu nur einen eisernen Willen haben. Naja, viel habe ich noch nicht erreicht, aber das wird noch, dachte sie beim Aussteigen.

Vor der Gaststätte „Sonnenschein“ herrschte schon emsiges Treiben. Tische und Stühle wurden herausgestellt und ein kleines Blumensträußchen daraufgestellt. Der Gastraum innen war schon fertig und blitzte vor Sauberkeit. Aus der Küche kam lautes Stimmengewirr und Tellerklappern.
„Schön, dass Sie schon da sind, Frau Sonntag. Herzlich willkommen.“ Veras neue Chefin kam auf sie zu. Sie begrüßten sich und Vera bekam gleich ihre Dienstkleidung und diverse Anleitungen.
Der Tag wurde hart und nahm kein Ende. Das würde sich in den nächsten Monaten auch nicht ändern. Aber Vera war es recht. Sie scherzte mit den Gästen und brachte ihnen flink das Gewünschte. Zweiundzwanzig Uhr wurde endlich geschlossen und sie zählte ihr Trinkgeld durch. Neunundsechzig Euro kamen zusammen. Nicht gerade viel, dachte sie, aber es war ihr erster Tag und die Saison hatte heute begonnen. Positiv denken, ermahnte sie sich, es kann nur noch besser werden.
Eine halbe Stunde später war sie fertig mit putzen und aufräumen und sie ging Richtung Seilbahn. Eine Kollegin schloß sich ihr an und sie plauderten noch ein bisschen. Vera erfuhr, dass sie schon das dritte Jahr hier arbeitete und unten im Dorf eine kleine Wonung besaß. Im Laufe des Tages hatten sie sich nicht viel unterhalten können, doch Vera hatte Maria, so hieß die neue Kollegin, gleich sympatisch gefunden. Negativ aufgefallen war Vera der Koch. Er mußte wohl schon ende Vierzig sein und hatte ein vernarbtes, blasses Gesicht und eine spiegelblanke Glatze. Was sie aber störte an ihm, war sein lauter, herrischer Befehlston und seine zynische Art.
So verging ein Tag nach dem anderen und aus Wochen wurden Monate.

Die Saison neigte sich dem Ende zu, doch der Sommer wollte noch nicht gehen. Jeden Tag brütende Hitze und verschwitzte Gäste. Vera war völlig fertig. Noch Zwanzig Tage, dann kann ich mich erholen. Dann ist endlich Schluß mit Lustig. Sie würde sich dann in aller Ruhe einen Halbtagsjob in der Nähe ihrer Wohnung suchen. Ansich machte ihr die Arbeit ja Spaß, wenn nur der Koch nicht wäre. Der Koch hieß Gernot und war ein Frauenhasser. Es machte ihm Vergnügen, die Mädels bis aufs Blut zu piesacken. Erst wenn sie weinten, war er zufrieden. Nichts und Niemand konnte es ihm recht machen. Er war der Beherrscher der Küche und schrie jeden bei dem kleinsten Fehler an. Dann machte er wieder anzügliche Bemerkungen. Vera hasste ihn aus vollem Herzen. Nicht nur einmal hatte sie geweint seinetwegen. Wenn Gernot gut gelaunt war, klatschte er ihr mit der Hand kräftig auf den Po. Meißt, wenn sie mit vollen Tellern die Küche verlassen wollte. Beim ersten mal war sie so erschrocken, dass ihr alles aus der Hand fiel. Es gab ein lautes Gepolter und die Chefin kam schimpfend dazu. Da sagte Gernot ganz laut, damit es ja alle hörten: „Vera, dass du langsam bist, wußte ich schon, aber das du zu blöd bist mit vier Tellern raus zu gehn, ist mir neu. Nimm doch jedesmal nur einen Teller - falls du das schaffst.“ Und er grinste sie hämisch an.
So und änlich verliefen die meißten Tage. Niemand mochte Gernot, aber es wußte auch niemand etwas von ihm. Vielleicht die Chefin, doch die erzählte von sich aus nichts und fragen mochte sie auch nicht.
Mit allen anderen Kolleginnen und Kollegen verstand sie sich bestens, sie schätzten ihre ruhige und freundliche Art. Aber am besten verstand sie sich mit Maria. Mit ihr wollte sich Vera nach Saisonende treffen, denn zum schwatzen blieb kaum Zeit bei dem vielen Stress.

Die letzten Arbeitstage nahten. Vera freute sich schon und sie hatte sich vorgenommen, erst mal zwei Wochen Urlaub zu machen, bevor sie sich eine neue Stelle suchen würde. Mit jedem Tag fiel es ihr schwerer freundlich und nett ihre Gäste zu behandeln. Sie trug nun ein aufgesetztes Lächeln, obwohl ihre Füße brannten und ihr Rücken ohne Unterlass schmerzte. Durchhalten, war das Motto. Durchhalten und die Zähne zusammen beißen. Es war ein harter Job und an Freizeitbeschäftigung nicht zu denken. Sie tat zu Hause nur das Nötigste und fiel danach totmüde in ihr Bett in einen traumlosen tiefen Schlaf.
Ihr Verhältnis zum Koch hatte sich nicht gebessert, im Gegenteil. Inzwischen hatte sie Angst vor ihm. Er wird sich an mir rächen, das läßt er nicht auf sich beruhen. Ihre Angst kam nicht von ungefähr. Denn als Gernot mal „gute Laune“ hatte und sie als Transuse beschimpfte, nannte sie ihn Glatzkopf. Vera bereute inzwischen, dass sie ihn so betitelt hatte, denn er kam ganz nah an sie heran und drängte sie in die Ecke. Vera hatte die Hände voll und keine Möglichkeit die Teller abzustellen. Mehr als mich anschreien kann er ja nicht, dachte sie, als er noch näher an sie kam und seinen Körper an ihr rieb. Hilflos schrie sie ihn an: „Verschwinde! Lass mich in Ruhe!“ Doch er lehnte sich noch stärker gegen sie, so dass ihr die Luft weg blieb. Ich habe keine Chance, die Chefin ist nicht da und die anderen sind genauso feige wie ich. Trotzdem schrie sie ihn weiter an. Ihre rechte Hand verkrampfte sich und die Teller fielen krachend zu Boden. Der Koch lies kurz von ihr ab und mit der nun freien Hand gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Erschrocken über sich selbst schaute sie ihm langsam ins Gesicht. Auf seiner linken Wange bildete sich rötlich der Abdruck ihrer Hand. Jetzt wird er zurück schlagen, dachte Vera ängstlich. Doch der Koch schaute sie nur hasserfüllt an, dann drehte er sich um und verließ wortlos die Küche. Als die Tür ausgependelt hatte, folgte ihm lautes Gelächter. Jetzt erst merkte sie, daß die gesamte Belegschaft anwesend war. Maria kam auf sie zu, legte beruhigend den Arm um sie und flüsterte: „Bist du wahnsinnig, das wird er sich nicht bieten lassen. Wie konntest du ihn schlagen?“ Nocheinmal nahm sie Vera in den Arm, dann huschte sie zurück in die Gaststube. Auch die restlichen Kollegen wandten sich wieder ihrer Arbeit zu.

Juhu, heute ist mein letzter Arbeitstag, alle Qual hat ein Ende. Vera saß in ihrem „Opi“ und zuckelte den Berg hinauf. Winzige Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Haut. Es war der letzte Tag im September, doch die Sonne brannte wie im Juli. Schön, dachte sie, da hab ich Bombenwetter im Urlaub. Ja, sie würde richtig Urlaub machen, und zwar hier im kleinen Dörfchen an der Seilbahn. Maria hatte ihr ihre kleine Wohnung für vierzehn Tage angeboten. Sie selbst wollte in dieser Zeit zu ihren Eltern nach Rostock fahren. Alles würde gut werden, denn sogar der verhasste Koch hatte seit dem Vorfall nur noch das Nötigste mit ihr gesprochen. Also war es ganz richtig, dass ich ihm eine geknallt habe, dachte Vera zufrieden, so muß man ihm also kommen, damit man in Ruhe gelassen wird.
An der Tür erwartete sie schon die Chefin. „Kommen sie mal kurz mit ins Büro!“
Wie jetzt, was soll das? Ob es wegen Gernot ist? Hab ich was falsch gemacht?
Doch nichts dergleichen. Die Chefin sagte ihr, dass sich ein Unternehmer samt Belegschaft für ein Arbeitsessen bei ihr gemeldet hätte und sie hätte auch schon zugesagt.
Nun sollten Vera und der Koch die Leute versorgen. Doch sie lehnte ab. „Nein, nein, dass geht nicht, mein Urlaub ist schon fest geplant und mir geht es auch nicht so gut.“
Das ließ die Chefin nicht gelten. „Frau Sonntag, sie sind meine beste Kraft, ich brauche sie unbedingt, und - ich zahle ihnen das Doppelte. Bitte lassen sie mich nicht im Stich.“
Was solls, dachte Vera, die paar Stunden schaffe ich auch noch und doppeltes Gehalt war in Ordnung, denn sie würde kein Trinkgeld erhalten, da die Chefin schon einen Festpreis ausgemacht hatte. An den Koch mochte sie garnicht denken, aber der war ja nun „zahm“. Also sagte sie zu, auch weil es erst in zwei Tagen war und sie sich etwas ausruhen konnte.
Am nächsten Morgen trudelte sie gegen Neun Uhr bei Maria ein. Die hatte den Frühstückstisch hübsch gedeckt und so saßen die beiden Frauen und genossen am offenem Fenster den herrlichen Tag. Maria führte sie durch die Wohnung und erklärte ihr alles. Sogar einen kleinen Garten mit einer von wildem Wein umrankten Laube, konnte sie nutzen. „Oh, wie romantisch, hier werde ich die meißte Zeit verbringen.“ Vera setzte sich auf die alte Holzbank und sah Maria dankbar an. Dann stand sie auf und drückte sie stürmisch. „Danke Maria, danke für alles und dein Vertrauen und ich bin so froh dich als Freundin zu haben.“

Wir saßen noch ein Weilchen in der Sonne, dann mußte Maria los. Da ich nichts besseres vorhatte, schnappte ich meine Handtasche und schlenderte durch das kleine Dörfchen. Überall hübsche gepflegte Häuser und Gärten und ein leise rieselnder Bach, umsäumt von Trauerweiden. An einem Bäckerladen machte ich halt und kaufte mir ein großes Stück Kuchen. Krümelnd und kauend blieb ich vor dem nächsten Schaufenster stehen. Ein handgeschriebenes Schild zog mich wie magisch an. „Bedienung gesucht“, hatte jemand flüchtig mit Rotstift geschrieben. Was gehts mich an, ich hab Urlaub, dachte ich und wollte schon weiter gehen. Doch dann drehte ich mich entschlossen um und betrat die kleine Gaststätte. Hinter dem Tresen stand ein aufgeputztes, stark geschminktes Mädel, welches hochnäsig auf meinen Gruß antwortete. Sie beachtete mich nicht weiter und stöckelte mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem Glas Bier zu dem einzigen Gast am Fenster. Wortlos stellte sie ihm das Bier hin und da sie sich von mir beobachtet fühlte, ging sie betont langsam zurück. „Könnte ich bitte mal den Chef sprechen,“ fragte ich und war verdutzt, dass das Mädel gleich nach hinten lief. Eine Minute später war sie zurück und nuschelte: „Kommt gleich.“ Vera sah sich in der Gaststube mit Kennerblicken um. Wenn ich hier arbeiten könnte, wäre das nicht schlecht. Nicht zu groß, sauber, ordentlich! Aber mit so einer Kollegin kann ich nicht arbeiten, obwohl, ich hab ja auch Glatzkopf ertragen.
„Sie wollten mich sprechen“, sagte eine angenehme männliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und das Blut stieg mir zu Kopf. Ich brachte wohl eine Ewigkeit kein Wort heraus und die Stille fing an peinlich zu werden. „Ja, ich... sie haben da ein Schild...“ Vera wurde wütend. Ich steh da wie ein dummes Kind, was soll der denn von mir denken. „Also ich würde gern hier arbeiten und wollte mal nachfragen, ob die Stelle noch frei ist.“ Uff, das wäre geschafft und rot bin ich hoffentlich auch nicht mehr. „Die Stelle ist noch frei und wenn sie möchten, gehen wir hinter in mein Büro und besprechen die Sache.“

Vera trabte hinter ihm her. Mann, der sieht sogar von hinten gut aus. Wie ein Blitz hat es bei mir eingeschlagen. Nun weiß ich was Liebe auf den ersten Blick ist.
„Wann könnten sie denn anfangen?“ Ich überlegte kurz und meinte dann vorsichtig: „Vielleicht in vierzehn Tagen.“ Nachdem wir uns begrüßt hatten erfuhr ich seinen Namen. Er hieß Peter Schmitt und war der Besitzer. Peter erzählte mit Bedauern, dass seine Kellnerin vor vierzehn Tagen gekündigte hatte und Ersatz schwer zu bekommen war. „Im Moment hilft mir meine Tochter aus, sie haben sie ja draussen gesehen. Könnten sie nicht schon früher anfangen?“ Ich hob den Kopf und sah genau in seine Augen und wieder schoss mir das Blut ins Gesicht. Schnell stand ich auf und sagte: „In drei Tagen, eher nicht. Ach ja, was zahlen sie denn und wieviel Stunden muß ich arbeiten?“ Als auch diese Sache für beide Seiten mit Zufriedenheit geklärt war, verließ Vera eilig das Geschäft. Sinnlos lief sie die Dorfstraße entlang und ließ sich dann am Bach auf einer Bank nieder. Ich muß erst mal meine Gedanken sortieren, was habe ich bloss da drinnen erzählt? Hab ich wirklich gesagt, ich fange in drei Tagen an? O Gott sieht der Typ gut aus, ob der zu haben ist? Total verwirrt und mit Bauchschmerzen lief ich zu meinem kleinen Urlaubsheim. Zum Glück war der Kühlschrank voll und ich trug mein Abendbrot in die Laube hinunter. Dort saß ich noch ewig, aber essen konnte ich nicht. Das kannte ich. Ich war verliebt.

Gegen Mittag saß ich in der Seilbahn und fuhr zum letzten mal zur Gaststätte „Sonnenschein“. Ich sollte den Gastraum herrichten und dann dem Koch zur Hand gehen. Später, wenn die Gäste da waren, würde ich bedienen. Inzwischen war mir egal, dass ich mit dem verhassten Gernot zusammen war, hatte ich doch Schmetterlinge im Bauch und war sorglos wie lange nicht. Am liebsten hätte ich laut gesungen. Doch noch saß ich in der Seilbahn und die verdammte Höhenangst machte mir wieder zu schaffen. Aber auch diese Fahrt war bald vorbei. Ein fröhliches Lied summend, betrat ich den Vorraum, wo mich Gernot schon erwartete. „Wird ja Zeit, dass Madam sich herbemüht. Ich soll wohl den ganzen Dreck alleine machen.“ Erstaunt sah ich ihn an. „Lass doch deine schlechte Laune an der Chefin aus, sie findets vielleicht toll“, erwiederte ich und wollte an ihm vorbei zum Umkleideraum. „Die Chefin kommt nicht, sie liegt unterm Messer, Blinddarmdurchbruch. Wir zwei sind ganz allein, Schätzchen. Ich bin heute dein Chef.“
Meine gute Laune war wie weggefegt. Trotzalledem verlief der Abend ohne Streit und an seine dummen Sprüche und zynischen Bemerkungen war ich gewöhnt. Ich hielt einfach meinen Mund und sagte nichts dazu. Wider Erwarten hatte ich am Ende des Tages fast Sechzig Euro Trinkgeld erhalten. Irgendwie hatte das der Koch mitbekommen und verlangte seinen Anteil. „Zwei Drittel ich und ein Drittel du“, sagte er herrisch. Aber nicht mit mir. Ich wollte das Geld für mich behalten. Besser, ich hätte es ihm gegeben, denn Gernot rastete aus und warf schreiend Töpfe und Tiegel durch die Küche.

Zitternd stand ich an der Seilbahn und vor mir stieg Gernot ein. Die Gäste waren längst fort und da wir noch Ordnung machen mußten, waren wir beide nun ganz allein. Ich hatte Angst, denn Gernot hatte mich übel beschimpft und mir angedroht, dass er, wenn wir allein in der Seilbahn sind, er sich seinen Anteil schon holen würde. Schnell sprang ich wieder heraus und hoffte, dass Gernot allein nach unten fahren würde. Wie ich nach Hause kommen sollte, hatte ich mir noch nicht überlegt. Doch leider kam im letzten Augenblick auch Gernot wieder heraus. Ohne zu überlegen rannte ich los, an der Gaststätte vorbei, hinein in den kargen Wald. Hier hoffte ich mich verstecken zu können. Hinter mir hörte ich Zweige knacken. Ich stand mucksmäuschenstill und hielt den Atem an. Mein Herz schlug bis zum Hals. Die Geräusche kamen näher, aber sehen konnte ich nichts. Das war gut so, demnach konnte er mich auch nicht sehen. „Komm her du Schlampe, hast den ganzen Tag gefaulenzt, rück mein Geld raus.“ Schimpfend und keuchend kletterte er immer höher. Das war meine Chance. Langsam und vorsichtig trat ich den Rückweg zur Seilbahn an. Die letzten zwanzig Meter rannte ich und stieg ein. Schnell drückte ich auf den Knopf und fuhr los. Ich war in Sicherheit.

Am nächsten Tag meldete ich mich auf meiner neuen Arbeitsstelle. Ansich hatte ich mir selbst Urlaub verordnet, aber wie in Trance hatte ich zu allem ja und Amen gesagt. Nun war ich wieder in Brot und Lohn. Peter begrüßte mich herzlich und auch seine Tochter brachte soetwas ähnliches wie „Hallo“, heraus. Heute waren mehr Gäste da. Es war Mittagszeit und ich bediente flink und freundlich. Peter stand in der Küche und bereitete alles zu. Einen Koch konnte er sich sicher nicht leisten, dafür war zu wenig Betrieb. Immer wieder mußte ich an die letzte Nacht denken und dass ich warscheinlich großes Glück hatte. Ich war überzeugt, dass mich Gernot, der Frauenhasser, umgebracht hätte.
Abends wurde es dann voller und ich kam kaum hinterher mit den Getränken. Zum Glück war Peters Tochter Susann, noch am Zapfhahn. Die betrunkenen Gäste lachten und scherzten mit mir und ich machte mit. Nach Mitternacht, so gegen zwei Uhr war der letzte Gast verschwunden. Ich legte mein Trinkgeld auf die Theke und machte daraus drei Häufchen. Aber ich durfte alles behalten. Zufrieden und unendlich müde, machte ich mich auf den Heimweg. Gut, dass ich bei Marie wohnte, so hatte ich nur fünf Minuten zu Fuß. Bevor ich die „Deutsche Küche“, so hieß die Gaststätte, verließ, kam Peter noch mit einer Flasche Wein. „Ich würde gern Brüderschaft trinken, wir arbeiten doch nun zusammen und da sollten wir uns beim Vornamen nennen.“ Die Gläser klangen hell, als wir anstießen. Am liebsten hätte ich ihm einen Kuss gegeben. Das kam natürlich nicht in Frage, er war mein Chef. Aber er war ein guter Chef, ruhig, aber bestimmt kamen seine Anweisungen. Und ich fand, dass er sehr zurückhaltend war. Nicht ein Wort zuviel und kein unnötiges Lächeln verschwendete er an mich. Ja, was hatte ich denn erwartet? Sicher war er verheiratet und sicher, ganz sicher, war er nicht verliebt in mich. Ich schimpfte mich eine kleine dumme Gans. Ich wollte ihm morgen ganz gewiss keinen verliebten Blick mehr zuwerfen.

Auf dem Nachhauseweg lief mir Gernot, der Glatzkopf, über den Weg. Er mußte mir aufgelauert haben. Ich wollte wegrennen, doch ich hatte keine Chance. Er packte mich am Arm, hielt mir den Mund zu, und flüsterte mir ekelhafte Dinge ins Ohr. Dabei zog er mich zu seinem Auto, versetzte mir einen Schlag auf den Kopf und stieß mich hinein. Ehe ich mich besann, fuhren wir schon los. Ich fing an zu schreien, obwohl ich wusste, dass mir dies garnichts nützen würde. Doch ich schrie weiter aus Angst und Verzweiflung. Nachdem wir aus dem Dorf heraus waren, hielt er an, stieß mir seine Faust ins Gesicht und fesselte meine Hände. Außerdem stopfte er mir noch einen alten Putzlappen in den Mund. Ich hatte Todesangst und konnte nicht mehr klar denken. Auch Schreien konnte ich nun nicht mehr. Aber das erübrigte sich, da er mir nochmals einen Schlag ins Gesicht verpasste. Wohlige Bewusstlosigkeit umgab mich.
Ich erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen und es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mich an alles erinnerte. Soweit das möglich war, mit dem Lappen im Mund, fing ich wieder an zu schreien und die Tränen liefen ohne Unterlass. Dadurch verstopfte sich meine Nase und ich war nah am ersticken. War nun mein letztes Stündlein gekommen? Sollte ich so jung schon sterben? Tausend Gedanken schossen durch meinen Kopf und mein Herz raste wie wild. Dann sagte ich immer wieder einen Satz zu mir selbst: Du mußt dich beruhigen, du mußt dich beruhigen! Endlich hörte ich auf mit Weinen und versuchte den Putzlappen auszuspucken, was mir nach endloser Zeit gelang. Noch nie hatte ich so bewußt die frische Luft eingeatmet. Es war eine wahre Wohltat. Nun mußte ich noch die Handfesseln lösen, was garnicht so schwierig war. Und immer lauschte ich mit einem Ohr nach draussen. Wenn Gernot jetzt kam, würde er mich wieder schlagen. Ich mußte unbedingt fliehen. Im Raum war es stockdunkel, aber nach einiger Zeit hatte ich die Tür ertastet. Sie war nicht abgeschlossen und ich konnte mein Glück kaum fassen. Vorsichtig öffnete ich die schwere Eisentür, welche hinaus ins Freie führte. Zum Glück schien der Mond durch die Bäume und ich konnte eine Treppe vor mir sehen, welche in den Wald führte. Wie der Wind lief ich hinauf und rannte und rannte. Irgendwann war ich so außer Puste, dass ich mich einfach ins weiche Moos sinken ließ und nimmermehr aufstehen wollte.

Doch ich mußte weiter. Immer weiter und weiter in den Wald hinein. Fort von diesem Ungeheuer. Es wahr wohl die Angst, die mir übermenschliche Kräfte verlieh, denn es war schon lange hell geworden, als ich mich immer noch durch das Dickicht schlug. Quälender Durst und die wahnsinnige Angst vor dem Glatzkopf waren meine Begleiter. Irgendwann stolperte ich und blieb einfach liegen. Keinen Schritt konnte ich mehr gehen. Da ich von dichtem Gebüsch umgeben war, beschloss ich hier zu warten. Er würde mich bestimmt nicht finden.
Plötzlich hörte ich über mir Hubschraubergebrumm und wünschte mir Rettung von da oben. Doch wer sollte mich suchen? Kein Mensch wußte, wo ich war. Als ich das dachte, fing ich wieder an zu weinen. Aber die Verzweiflung machte mich mutig und ich sprang aus dem Gebüsch und ruderte wie wild mit den Armen Richtung Hubschrauber. Dieser verschwand nach kurzer Zeit und ich merkte, dass ich noch immer schrie: Hier bin ich! Helft mir! Helft mir! Dann muß ich eingeschlafen sein.

Starke Arme packten mich und hoben mich hoch. Da wurde ich wach und fing wieder an zu schreien: Helft mir! Helft mir! Helft mir!
„Ganz ruhig, junge Frau, alles wird gut, sie sind in Sicherheit“.


Als ich die Augen aufschlug, saß Peter neben mir im Krankenhaus. „Was machst du hier“? fragte ich. Er sah mich besorgt an und fing dann an zu sprechen. „Wenn du dich erholt hast, werde ich dir alles erzählen“. „Nein, ich will es jetzt wissen, wie habt ihr mich gefunden“?
„Als du in der Nacht allein nach Hause gegangen bist, hatte ich mir Sorgen gemacht und bin hinter dir her. Ich habe gesehen, wie du ins Auto geworfen wurdest und wie er dich geschlagen hat. Aber ihr wart zu weit weg, ich konnte dir nicht helfen. Sofort habe ich die Polizei informiert, die dich dann zum Glück auch gefunden hat. Der Glatzkopf wurde inzwischen eingesperrt. Du brauchtst vor ihm keine Angst mehr zu haben. Er wird seine gerechte Strafe bekommen“. Peter sah mich liebevoll an. „Und glaub mir, ich habe mir unendliche Sorgen um dich gemacht. Ich habe dich von Anfang an in mein Herz geschlossen. Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick“?