Gastsprecher Jan Langer war nun so frei, eine meiner BESTEN Kurzgeschichten, an die ich mich selbst nicht einmal herantraute, für euch aufzusprechen!

Youtube: Kontrollverlust
Kontrollverlust
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Langsam wurde ich mir meines Selbst bewusst. Die Umgebung um mich herum wurde deutlicher. Ich ging, völlig automatisch, diesen schönen Waldweg entlang. Der Boden unter meinen Füßen war ein Trampelpfad aus nackter Erde. Die Wimpel der Bäume am Rand des Weges schützten stellenweise mit ihrem Schattenwurf vor den Sonnenstrahlen, welche bemüht waren, einen schwitzen zu lassen. Neben mir war dieses Mädchen, ich schätzte sie so auf 16 Jahre. Sie trug ein weißes T-Shirt und blaue Jeans, ihre blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf ihrem Rücken trug sie einen blauen Rucksack. Ich wusste sie nicht zuzuordnen, doch zugleich kannte ich sie in- und auswendig. Anders war es bei dem Jungen vor uns, er strahlte für mich pure Vertrautheit aus – doch ihn kannte ich überhaupt nicht. Er durfte ungefähr das gleiche Alter wie das Mädchen haben und trug einen braunen Kapuzenpullover sowie eine schwarze Hose. Auch er trug einen Rucksack. Trotz meiner Verwirrung verhielt ich mich normal. Es war, als sei ich fremdgesteuert. Ich bildete mir ein, intuitiv zu handeln – die Wahrheit war, dass ich keine Ahnung von dem hatte, was ich hier tat und warum ich hier war. Alles wirkte klar und dennoch verschwommen um uns, als seien wir in einer Scheinwelt. Waren wir das vielleicht auch?

Ich wusste es nicht, denn ich wusste gar nichts. Alles was ich tat, war der Person vor uns durch diesen Wald zu folgen. Jetzt neigte sich der Kopf des Jungen zu mir um und lächelte. Sein Blick durchfuhr meinen Körper und wie auf einen unsichtbaren Befehl hin erwiderte ich sein Lächeln. Ich war wie eine Puppe, durch diktatorische Fäden dem Zwang erlegen, auf sein Verhalten zu antworten.
Normalerweise wäre ich in Panik verfallen, was immer hier vorging war beängstigend. Stattdessen empfand ich keine Angst, vielmehr fühlte ich mich schläfrig. Alles, was ich empfand, war eine eigenartige Müdigkeit, die mir vorkam, als sei sie schon mein ganzes Leben lang dagewesen, nur war sie für mich so normal wie das Atmen.

Plötzlich veränderte sich die Umgebung. Alle Bäume wurden zu einem wabbeligen Wirrwarr und selbst der Boden unter unseren Füßen war alles andere als fest. Mit einem Mal stand ich nicht mehr, ich saß. Irritiert schaute ich mich um; Wie aus dem Nichts war ein Bahnhof um mich herum entstanden. Nein, nicht um mich – um uns. Neben mir saßen der Junge und das Mädchen aus dem Wald und waren am Rumknutschen. Ihre Rucksäcke waren verschwunden, ob sie noch dasselbe trugen, konnte ich nicht beurteilen – es fiel mir einfach nicht mehr ein, was sie zuvor anhatten. Wir saßen auf einer Bank, in einem Bahnhof, wo Sekunden zuvor ein Wald gewesen war und die beiden tauschten Küsse aus. Diese Verrückten! Oder war ich der Verrückte?

Ich versuchte aufzustehen, stemmte mich mit aller Kraft von der Bank hoch. Es ging nicht, mein Körper machte keine Anstalten, sich zu erheben. Stattdessen legte ich völlig entspannt meine Arme auf die Rückseite der Bank und streckte mich zu den beiden Anderen herüber. Da löste der Junge sich von seinem Mädchen und sagte etwas. Ich verstand kein Wort. Sein Mund bewegte sich und es kamen scheinbar auch Laute heraus, doch alles was bei mir ankam, war wie das verzerrte Echo einer Erinnerung. Es war unmöglich zu verstehen, was er sagte und dennoch lachte ich laut auf. Mein Lachen kam tief aus dem Herzen, doch geschah es gegen meinen Willen. Wie zuvor lag die Kontrolle über meinen Körper nicht bei mir, aber genauso wenig war zu sagen, was mich dazu trieb. War es der Junge? Hatte er mich hypnotisiert? War er womöglich auch in dieser Situation gefangen?

Der Gedanke, die beiden Turteltauben könnten ebenso Gefangene wie ich sein, verschaffte mir eine leichte Linderung. Was immer hier vorging, das Gefühl, nicht der Einzige in der Klemme steckende zu sein, hatte was Beruhigendes. Leider war es mir durch die Fesseln, die mich an eigenständigen Aktionen hinderten, unmöglich herauszufinden, wie es bei meinen Begleitern war.

Jetzt sagte das Mädchen etwas, woraufhin der Junge nickte und beide standen ohne jede Mühe auf. Bestürzung machte sich in mir breit, sie waren einfach von der Bank aufgestanden! Wozu ich mit aller Kraft und mit all meinem Willen nicht in der Lage war – das taten sie einfach so. Während ich innerlich um das letzte bisschen Fassung kämpfte, sprach mich der Junge an. Ich spürte die Aufforderung von ihm, ebenfalls aufzustehen. Ein lautloser Befehl – zumindest für mich. Jetzt war der Moment gekommen, würde es gehen?

Vorsichtig verlagerte ich meinen Oberkörper nach vorne und wuchtete das Gewicht dessen auf meine Beine. Bis dahin gab es keine Probleme. Dann spannte ich meine Beinmuskeln an und versuchte, mich von der Bank zu lösen. Keine Sekunde später stand ich wie die beiden Anderen. Innerlich kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was immer hier vorging, es hing unmittelbar mit diesen zwei Leuten zusammen. Völlig unbeeindruckt von dem Geschehen nahm sich das Paar an die Hand und ging den Gang im Inneren des Bahnhofs entlang. Ohne darüber nachzudenken folgte ich ihnen. Vermutlich musste ich dazu auch gar nicht nachdenken. Es geschah ohnehin alles ohne meine Zustimmung.

So gingen wir durch den menschenleeren Bahnhof und an einigen Schaufenstern vorbei. Diese stille, tote Kulisse, hatte nichts von der Atmosphäre eines richtigen Bahnhofes. Mein Spiegelbild ließ mich als hochgewachsenen Strubbelkopf mit Lederjacke und Jeans erkennen. Dieser Anblick war verstörend, denn ich bemerkte mich, in diesem Augenblick, zum ersten Mal selbst gesehen zu haben. Es war mir schlicht nicht bekannt gewesen, wie ich aussah. Das Ganze wurde immer unheimlicher. Egal wie sehr ich hin und her überlegte – keine Lösung dieser Ereignisse war für mich in Sicht.

Plötzlich sah der Junge nach oben. Ich folgte seinem Blick und entdeckte eine große Uhr über uns. Sie zeigte 15:00 Uhr an, nein 13:30 Uhr! Vielleicht auch 20:45 Uhr. Egal wie sehr ich mich anstrengte, die Uhr schien mir jedes Mal etwas völlig Anderes anzuzeigen! Dennoch schien der Junge erfahren zu haben, was er wollte – denn er rief etwas und schon sprinteten er und das Mädchen wie auf der Flucht los. Sofort rannte ich hinterher, ob durch mich oder nicht war uninteressant, da ich ihnen selbst auch folgen wollte. Das Alles hatte mit ihnen zusammen begonnen, also lag darin vielleicht auch der Schlüssel!
So rannten wir so schnell es ging – was auf mich wie in Zeitlupe wirkte – aus dem Bahnhof heraus und in die nächste Straße hinein. Hier waren auch andere Menschen, doch ich nahm sie nur schemenhaft wahr. Meine Sinne waren auf das Rennen und auf das Ausweichen konzentriert. Nach etwa 5 Minuten, oder 10 Sekunden? Schienen wir am Ziel angelangt. Wir stoppten vor dem Eingang eines Kinos.

Gerade machte der Junge die Tür auf, da fing wieder alles um uns herum an zu verwackeln. Es war wie ein abartiges Déjà-vu. Wieder verschwamm alles und eine neue Szene bildete sich. Ich biss die Zähne zusammen und wartete ab. Etwas Weiches, Angenehmes umgab meinen Rücken und auch meine Beine verloren die Last meines Körpers. Schon saßen wir zu dritt im Kinosaal, während ein bunter Farbenmix auf die Leinwand gestrahlt wurde. Wir sahen uns also einen Film an. Es war zwar fast unmöglich, aber ich versuchte die Details dieses regebogenfarbenen Filmes zu erkennen und tatsächlich ergaben die Farben nach kurzer Zeit Formen und Konturen. Es waren zwei Frauen, den Kleidern zu urteilen aus der Barockzeit. Sie trugen diese typisch gebauschten Röcke. Die Eine hatte weiße Haare und einen Dutt. Die Andere war blond, Haare offen. Einen Ton konnte ich nicht hören. Stattdessen fiel mir etwas auf und wenn ich gekonnt hätte – mir wäre das Schaudern gekommen; Die Frauen hatten keine Gesichter!
Alles was zu sehen war, waren unkenntliche Konturen. Wo Augen, Nase und Mund sich befinden sollten, wirkte es auf mich eher, wie ein sich bewegendes Kunstgemälde über das Wasser geschüttet worden war. Selbst eine Pixelzensur wäre erkennbarer und weniger surreal gewesen. Dieser Anblick war schockierend und zugleich flammte in mir eine grauenhafte Überlegung auf. Langsam, ganz langsam neigte ich meinen Kopf nach links wo meine Begleiter saßen. Mir war in diesem Moment nicht einmal klar, dass ich es selbst tat und auch warum es mir plötzlich erlaubt war, schien unergründlich. Angstgepeinigt und auf das Schlimmste vorbereitet, traute ich mich meinen Kopf Millimeter um Millimeter zu kippen und aus den Augenwinkeln heraus, lugte ich zu ihnen.

Erst schien alles normal. Sie saßen da und sahen sich diesen völlig bizarren Film an. Meine Konzentration richtete sich nun auf ihre Gesichter. Tatsächlich! Auch sie hatten keine! Ein kalter Schauer überkam mich, ich saß hier mit gesichtslosen Menschen und war in einer surrealen Welt, ohne Kontrolle über mich, gefangen!

Ich war kurz davor, zusammenzubrechen. Die Beiden bemerkten meinen Blick und ohne Weiteres waren wir in einem Partykeller. Sie tanzten und ich saß auf einem Hocker an der Theke. Die Musik, zu der sie tanzten, war ein dumpfer Bass, wie alle anderen Laute kaum hörbar und doch deutlich zu spüren. Diesmal aber, fühlte ich eine Art Freiheit in meinem Tun. Es erschloss sich mir nicht, warum – aber von jetzt auf Gleich war ich frei in meinem Handeln. Das nutzte ich auch und stellte mich dem Jungen gegenüber. Dieser war - genau wie das Mädchen - offensichtlich überrascht, über mein Handeln. Es blieb mir keine Zeit für Erklärungen oder große Worte, denn diese Kontrolle über mich, konnte jeden Augenblick wieder anders verlagert sein. So nahm ich all meine übrige Kraft zusammen und versuchte, eine Frage zu bilden. Warum, wieso, wie, wer - alles zugleich wollte durchkommen. So viele Fragen, so wenig Zeit.

Ehe ich jedoch etwas sagen konnte, ertönte ein durchdringender Lärm. Intensiver als jeder Eindruck zuvor, drang der schrille Klang eines Weckers durch die gesamte Existenz dieser Welt. Alle Details des Partykellers verschwammen, alles was ich wusste, wurde undurchsichtig. Die Klamotten des Mädchens lösten sich auf und übrig blieb eine Puppe, deren Form zu einer Masse zusammensackte und schließlich verpuffte. Der Junge hingegen blieb konstant. Er veränderte sich nicht. Diese ganze Welt brach innerhalb eines Wimpernschlages zusammen, nur dieser Junge wurde sogar deutlicher, klarer, immer besser erkennbar.

Nun begriff ich. Es war ein Traum, nicht mein Traum nein – seiner. Alles, was bis dorthin geschah, war von ihm ausgegangen. Ich war von ihm erträumt worden. Darum besaß ich keine Erinnerungen und wusste dennoch über alles Bescheid. Die Kontrolle lag in seinem Traum, denn ich war Teil davon. Gespeist und erschaffen aus den Ansammlungen seiner Gedanken. Ein unfreiwilliger Statist ohne Selbstbestimmung über sein Dasein.

Jetzt endete sein Traum und ich wurde ausgelöscht, ich starb – oder vielmehr hörte ich auf zu existieren. Für Fragen, warum ich all das wahrnahm, ob ich öfter von ihm erträumt wurde – dafür war keine Zeit mehr. Doch nun war ich gefasst. Ich fürchtete nicht mein Ende, denn gelebt, hatte ich auch nie. Ein letzter Blick auf den wach werdenden Träumer, dann setzte das Vergessen ein und es wurde dunkel.