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Konny Zink:
Arbeiterfragen an Fremde

(Oschatz-Leipzig-Wolfen)
Am 16. Juni 1953 schloß ich gegen 19 Uhr die Kreisabendschule der SED in Berlin-Mitte mit der mündlichen Prüfung ab, nachdem ich dieser Partei fünf Jahre zuvor als achtzehnjähriger Hilfsarbeiter aus politischer Überzeugung beigetreten war. Mein Heimweg führte mich danach durch das Berliner Zentrum, in dem ich nichts Außergewöhnliches bemerkte. Es war noch immer von den tiefen Wunden des Krieges gezeichnet, obwohl viele Tausende Ostberliner diesen scheinbar endlosen Ruinenfeldern und Trümmerbergen seit geraumer Zeit energisch zu Leibe rückten. Sie opferten dafür freiwillig viele, viele Stunden ihrer Freizeit und hatten oft nur einen Maurerhammer und ihre bloßen Hände als Werkzeug zur Verfügung. Ich gehörte zu ihnen und weiß, wovon ich berichte.

Als Mitarbeiter des Ministeriums für Handel und Versorgung wollte ich mich am 17. Juni 1953 um einige sozialpolitische Probleme in den Oschatzer Verkaufseinrichtungen der HO kümmern. Es war ein schöner Frühsommertag. Die Kollegen des HO-Kaufhauses und der außerdem zu überprüfenden Geschäfte behandelten mich freundlich, und auch im Stadtgebiet fiel mir nichts Besonderes auf. Von der Verhängung des Ausnahmezustandes in Ostberlin erfuhr ich erst durch den Wartesaal-Lautsprecher des Oschatzer Bahnhofs, von welchem ich am Nachmittag die Heimfahrt antreten wollte. Auf diese Nachricht war ich so wenig gefaßt, daß ich bei den ersten Worten noch eine historische Reminiszenz an die Befreiung Berlins vom Hitlerfaschismus zu hören glaubte. Doch offenbar war dies nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. Nun schien mir auch, daß die übrigen Leute irgendwie auffällig auf mich blickten. Vielleicht, weil ich am Revers mein Parteiabzeichen trug?

In der Oschatzer SED-Kreisleitung traf ich nur den Pförtner an - von den übrigen Mitarbeitern war niemand erreichbar. Also zurück zum Bahnhof! In Richtung Leipzig fuhr der Zug planmäßig. Mitreisende informierten mich, daß dort Tumulte stattfänden. Die Zufahrt nach Berlin sei gesperrt. An meinem Parteiabzeichen schien niemand Anstoß zu nehmen.

Leipzig, Hauptbahnhof. Wie und wann es nach Berlin weitergehen würde, war nicht absehbar. Ich wollte den Bahnhof verlassen, aber das Ausgangstor war verschlossen und wurde bewacht. Der Volkspolizist warnte mich: ich befände mich wegen des Abzeichens in Lebensgefahr. Es fiel mir nicht leicht, mich zeitweilig von dem zu trennen, was ich bisher immer offen getragen hatte. Anfeindungen waren mir auch in den vorangegangenen Jahren nicht erspart geblieben. Eine Narbe an meiner Unterlippe erinnert mich noch heute daran, daß ich als 19jähriger FDJ-Funktionär in Aschersleben auf offener Straße von Jungfaschisten zusammengeschlagen wurde. Bestraft hat man dafür niemanden und selbst den Anführer erst in Verwahrung genommen, nachdem er seinen Berufsschullehrer erstochen hatte.

In Dessau wohnten meine Schwiegereltern, bei denen ich nun übernachten wollte. Der Zug fuhr allerdings erst mal nur bis Wolfen, wo ich kurz vor Mitternacht eintraf und den verqualmten Wartesaal aufsuchte. Er war überfüllt, denn viele wollten noch nach Hause - darunter auch eine Menge Arbeiter, die offenbar von der Schicht kamen. Oder vom Streik? Man sah es ihnen nicht an, und auch von „Volksaufstand" spürte ich hier nichts. Allerdings war offenbar bereits viel Alkohol geflossen, und eine Gruppe Betrunkener wollte den Wirt durch Rempeleien zum Ignorieren der Polizeistunde zwingen.

Ich war froh, an einem bereits von ca. 12 Personen besetzten Tisch noch einen Platz für mich zu finden und wurde dadurch überraschenderweise Zeuge einer mündlichen Instruktion für den 18. Juni 1953. Denn zwei etwa 40jährige, lederbejackte Männer gaben den neben ihnen Sitzenden Weisungen für den Schichtbeginn im Braunkohlentagebau: die Förder- und Krananlagen seien zu besetzen und stillzulegen, Kohletransporte zu stoppen und überhaupt jeder Arbeitsfortgang zu unterbrechen ...

Beide sprachen Deutsch, allerdings nicht die Bitterfelder Mundart. Die Leute um mich herum, offenbar Arbeiter und Arbeiterinnen des Kohletagebaus, hörten zu und schwiegen. Aber dann stellte die Frau neben mir - ebenfalls etwa 40 Jahre alt - den Lederbejackten die Frage, wer sie seien und woher sie kämen. Das „Wer" wurde nicht beantwortet, nur das „Woher". Aus Berlin. Ost oder West? Das blieb offen, und für weitere Fragen war keine Gelegenheit. Denn die Herren standen abrupt auf und verließen den Tisch.

Kurz danach, in der ersten Stunde des inzwischen angebrochenen 18. Juni, betrat !ch erneut den Wolfener Bahnsteig zur Weiterfahrt nach Dessau. Von den dort Wartenden hörte ich, daß sie an diesem Tag arbeiten würden. Über Dessau - das noch Mitte März 1945 von britischen und amerikanischen Bombern zu 85 % zerstört worden war - fuhr ich wenige Stunden später - und zwar wieder mit Parteiabzeichen - nach Berlin. Erst hier erfuhr ich, was sich am Vortag in der Hauptstadt und im Lande abgespielt hatte. Auch, daß man in der Bitterfelder Region Parteimitglieder mißhandelt hatte und einige von ihnen nur knapp dem Tode entgangen waren.

Nach alledem besteht für mich kein Zweifel daran, daß die eigentlichen Organisatoren und Drahtzieher der Ereignisse und vieler weiterer Aktionen gegen die DDR in westlichen Agentenzentralen zu suchen sind. Wer dafür weitere Beweise braucht, sollte sich beispielsweise der damaligen und späteren Rolle des amerikanischen RIAS erinnern, die inzwischen selbst von Herrn Bahr nur noch schwach geleugnet wird. Es ist doch bezeichnend, daß dieser Sender seine Tätigkeit mit der deutschen „Wiedervereinigung" einstellte, da die USA-Regierung seine Finanzierung nicht länger für erforderlich hielt.
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