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Und noch ein Roman einer jungen Migrantin, diesmal einer Russin. Aber dieser Text ist voll gelungen, eine Freude zu lesen, da Gorelik nicht ihr eigenes Leben reflektiert, sondern eine faszinierende Familiengeschichte entwickelt.

Die Ich-Erzählerin Sofia wird Anfang der 70er Jahre als kleines Kind von ihrer Mutter gemeinsam mit ihrer Großmutter in die Bundesrepublik Deutschland (der Ort ist nicht spezifiziert) gebracht. Ihre Mutter ist zum zweiten Mal verheiratet: mit einem westdeutschen Kommunisten, der in der Sowjetunion studiert hat. Ihr erster Mann ist offiziell bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Jahrzehnte nach dieser Emigration hat Sofia ein Kind und lebt mit ihrem Freund (nicht der Vater) zusammen. Die Familiensituation jedoch ist nicht sehr einfach: ihre Großmutter leidet an Alzheimer und ist unzurechnungsfähig, ihre Mutter ist eine Helikoptermutter, ihre Tochter Anna leidet an einem angeborenen schweren Herzfehler.

Sie arbeitet in kürzeren und sehr lesbaren Kapiteln nicht nur ihr Verhältnis zu den unmittelbaren Familienmitgliedern (Großmutter, Mutter), ihre schriftstellerische Schreibhemmung, sondern auch ihre Familiengeschichte auf.

Schließlich kommt zu Tage, dass ihr Vater sowie ihr Onkel Grischa (Bruder ihrer Mutter) Teil der Samisdat-Bewegung waren und zu Arbeitslagerstrafen in Perm-36 verurteilt wurden. Der Vater ist dort verstorben, über das Schicksal von Grischa ist nichts bekannt.

Gorelik schreibt mit einer sehr feinen sprachlichen Klinge, welche einem die Figuren des Romans sehr nahe bringt. Vor allem die Entwicklung des Charakters von Grischa von einem hyperaktiven Schulkind (Grimassen schneidend bei der Trauerfeier zu Stalins Tod) zu einem künstlerisch hochbegabten Zeichner und Fotografen in der Samisdat-Bewegung ist sehr eindrucksvoll.

Die Kapitel über die kranke Großmutter im Heim sowie ihre herzkranke Tochter sind sehr ergreifend.

Der Titel stammt daher, dass Sofia zu allen möglichen Themen Listen erstellt (so eine Art Karteikärtchen) und schließlich in den Hinterlassenschaften ihrer Großmutter entdeckt, dass ihr Onkel Grischa ebenso Listen geschrieben hat.

Wirklich ein sehr ans Herz gehender Roman mit sehr viel Mitgefühl für die vorgestellten Personen.

Infolinks im Spoiler

Die Autorin:
http://www.lenagorelik.de
Wikipedia: Lena Gorelik

Verlagsinfo:
https://www.rowohlt.de/e-book/lena-gorelik-die-listensammlerin.html

Rezensionen:

https://cms.falter.at/falter/rezensionen/buecher/?issue_id=501&item_id=9783871346064
http://oe1.orf.at/artikel/351629
https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/lena-goreliks-roman-die-listensammlerin-1.18228588
http://www.badische-zeitung.de/literatur-rezensionen/lena-goreliks-die-listensammlerin-fassungslos-in-der-welt--79459761.html

Das Lager Perm-36 wurde auch nach Stalins Tod 1953 weitergeführt und erst 1987 geschlossen:
Wikipedia: Perm-36 Gulag-Museum