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Victor Klemperer - Revolutionstagebuch 1919

2 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Rezension, München, Autobiographie ▪ Abonnieren: Feed E-Mail
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Victor Klemperer - Revolutionstagebuch 1919

08.01.2018 um 22:18
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Klemperer ist vermutlich aus drei Gründen bekannt: sein Überleben des Holocausts in Dresden, da er Dank seiner "nicht-jüdischen" Frau bei den sehr "Späten" hätte sein sollen, sein Buch über die Sprache des Dritten Reichs (LTI - Lingua Tertii Imperii), sein Tagebuch von 1933 bis 1945.

Der Aufbau-Verlag hat seine Aufzeichnungen zur Münchner Räterepublik in der ersten Hälfte des Jahres 1919 veröffentlicht. Sie bestehen aus zwei Teilen: aus seinen Berichten als "A.B.-Mitarbeiter" (A.B. = Antibavaricus) an die sehr konservative Zeitung Leipziger Neueste Nachrichten (LNN) sowie seinen Reflexionen der Münchner Zeit, die er im "Judenhaus" 1942 niedergeschrieben hat.

Klemperer war Kriegsfreiwilliger und als Sohn eines Rabbi wie einer jüdischen Mutter zum lutherischen Christentum konvertiert und begann eine Karriere als Literaturwissenschafter über moderne französische Literatur. Seine Habilitation schrieb er über Montesquieu.

Nach dem Krieg erhielt er eine Privatdozentur an der Uni München, wurde aber von den politischen Ereignissen überrollt und begann Artikel für die LNN zu schreiben, von denen sehr viele gar nicht ankamen, da das Postwesen zusammengebrochen war.

Klemperer war deutsch-patriotisch, politisch liberal, ein Anhänger der Weimarer Koalition und sowohl gegen den Bolschewismus wie auch den Deutschnationalismus der Burschenschaften. Somit war klar: mit der Ermordung Eisners und der Flucht Hoffmanns war in München keine politische Kraft übrig, die eigentlich seine Überzeugungen vertreten hätte, somit stellte er sich sehr lakonisch gegen die Entwicklungen in München. Und seine Beobachtungen sind höchst interessant.

Ausgehend von seiner beruflichen Stellung an der Uni München, die mehr als einmal sehr unsicher war, da die Uni von Bewaffneten besetzt war sowie einer radikalen Umstrukturierung bedroht war, konnte er auf der einen Seite die radikalen Deutschnationalen beobachten, die von einem religiösen zu einem Abstammungsantisemitismus umschwenkten, der ihn als Konvertierten auch bedrohte. Und alle seine Befürchtungen von 1919 waren eingetroffen, als er 1942 die Münchner Zeit reflektierte. Selbst von den Akteuren 1919 waren viele 1942 bereits zu aktiven Nationalsozialisten gewandelt.

Auf der anderen Seite analysierte er völlig richtig, dass viele der führenden Räterepublikaner keine Münchner, ja nicht mal Bayern waren, sondern in der ersten Phase aus der Bohéme stammten ("Schwabing spielt Weltrevolution"). Auch seine Prophezeiung, dass nach Eisner, Hoffmann die erste Räterepublik nicht bei Landauer und seinem anarchistisch-künstlerischen Kreis bliebe, sondern dass die Bolschewiken unter Max Levien putschen würden und dies nur zum militärischen Eingriff der Weißen unter Epp führen würde, erwies sich als korrekte Voraussage.

Klemperer zeigt auf, dass die Räterepublik keine Chance hatte, da die Münchner sich indifferent verhielten, das restliche Bayern sich verweigerte und die Nahrungsmittelversorgung daher mehr als prekär war, auch hatte die Regierung unter Hoffmann die Prägestempel für Banknoten über ein Mark mitnehmen lassen, also war auch die Finanzsituation höchst kritisch, was auch die militärische Kraft schwächte, da die vielen Kriegsrückkehrer für diejenigen kämpften, welche am meisten bezahlten.

Und so kam es auch: die Dichotomie zwischen illegalisierter parlamentarischer Vertretung sowie der Rätevertretung wurde militärisch von Truppen gelöst, die weder eine parlamentarische noch eine Räterepublik haben wollten.

Auch dies kommt bei Klemperer zu Wort: für die exzessive Gewalt der Roten wie auch der Weißen hatte er nichts übrig, auch wenn das Leben in München für ihn sehr friedlich schien (obwohl: die Schießereien, von denen er berichtet, möchte ich nicht erleben!). Die Indifferenz der Münchner gegenüber den Roten wie auch den antisemitischen Weißen führte bei ihm beinahe zu einem Hass auf die Stadtbewohner, da er sich ein Eintreten für liberaldemokratische Werte wie auch die Weimarer Koalition ersehnte.

Faszinierend für mich ist, wie Klemperer bereits im München des Jahres 1919 die Konstellation erkannte, welche die Weimarer Republik schließlich zerreißen würde und ein Mörderregime an die Macht hieven konnte.

Vorbildlich auch die Edition des Aufbau-Verlags mit einem ausführlichen Fußnotenanhang wie einem sehr brauchbaren Index sowie einem informierten Nachwort des Historikers Wolfram Wette.

Infolinks im Spoiler
Verlagsinfo:
http://www.aufbau-verlag.de/index.php/man-mochte-immer-weinen-und-lachen-in-einem.html

Rezensionen:
https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article143850383/Wie-Victor-Klemperer-die-Muenchner-Raeterepublik-sah.html
http://www.fnp.de/nachrichten/kultur/Man-moechte-weinen-und-lachen;art679,1497875
http://www.tagesspiegel.de/politik/politische-literatur/victor-klemperers-revolutionstagebuch-als-preusse-vor-ort/12203740.html
https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/wirklich-haben-die-juden-es-hier-nicht-besser-als-die-preussen-1.18587061
http://www.sueddeutsche.de/kultur/historisches-tagebuch-polit-gaudi-1.2553104
http://www.kleinezeitung.at/kultur/4776295/Neuerscheinung_Victor-Klemperers-Revolutionstagebuch
http://www.deutschlandfunkkultur.de/victor-klemperer-besonderer-zeitzeuge-der-muenchner.950.de.html?dram:article_id=324883



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Victor Klemperer - Revolutionstagebuch 1919

08.01.2018 um 22:24
Das wollte Ich doch mal schreiben, dein Fachwissen bezüglich Literatur /Bücher so wie der den Schriftsteller Lebensgeschichten, ist grandios. So hat eben jeder Mensch irgend wo seine spezielle Passion. Großes Wissen, Hobby & Leidenschaft ist auf alle Fälle in deinen vielen (einiges ja so auch gelesen) Fach bezogenen Blogbeiträgen, den stets ersichtlich.


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