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Der Kulturhistoriker Hosfeld hat 2005 ein packendes Buch über den Völkermord der jungtürkischen Regierung an den Armeniern Anatoliens veröffentlicht. Ausgangspunkt ist die Ermordung Talaat Paschas, des verantwortlichen Innenministers, 1921 in Berlin durch den Armenier Soghomon Tehlirian, der von einem Berliner Gericht nach Präsentation der von Talaat verübten Gräueltaten freigesprochen wurde.

Der Hauptteil des Buches, der den befohlenen Genozid akribisch und unter Verwendung von zeitgenössischen Aussagen Überlebender und Zeugen, aber auch von Botschaftsberichten (darunter Henry Morgenthau sowie deutsche Konsuln) nachgezeichnet wird, übersteigt streckenweise das Fassbare.

Die am 24. April 1915 begonnene Vertreibung und Vernichtung der Armenier verlief durchgehend nach dem gleichen, durch das Zentralkomitee der Jungtürken unter Talaat Pascha (Innenminister) und Enver Pascha (Kriegsminister) befohlenen Muster: Deportationsbefehl, Überfall und Massenmord am Weg durch das Sonderkommando Teskilati Mahsusa oder durch angeheuerte kurdische Banden, Vernichtung durch Versorgungsentzug der Überlebenden in der syrischen Wüste.

Die deutsche Haltung gegenüber den Pogromen und dem Genozid an den Armeniern ist gemischt. Während der religiös aufgestachelten Pogrome von 1895/96 wünschten sowohl Kaiser Wilhelm II. als auch der Liberale Friedrich Naumann keinerlei Kritik am osmanischen Bündnispartner. Naumann sah zum Beispiel in Deutschlands "weltpolitischer Sendung den tiefe[n] sittliche[n] Grund, warum wir gegen die Leiden der christlichen Völker im türkischen Reiche politisch gleichgültig sein müssen."

Der Genozid von 1915 wurde akribisch von deutschen Konsuln und dem Botschafter nach Berlin gemeldet, Kanzler Bethmann Hollweg hat diese schlichtweg aus kriegsstrategischen Gründen ignoriert und abgeschmettert. Johannes Lepsius hat diese Korrespondenz bereits vor dem Prozess gegen Tehlirian gesammelt und veröffentlicht (modern: ein Leak) und diese war mit ein Grund, warum Tehlirian freigesprochen wurde.

Gegen die Verantwortlichen des Genozid aus dem jungtürkischen Komitee für Freiheit und Fortschritt wurden in der Türkei unter dem neuen, den Jungtürken sehr ablehnend gegenüberstehenden Sultan Mehmed VI. Vahideddin Kriegsgerichtsverfahren wegen Völkermords an einem osmanischen Volk eingeleitet. Gegen Talaat und Enver wurden 1919 unter Abwesenheit Todesurteile ausgesprochen. Talaat lebte zu der Zeit im demokratischen Berlin, Enver im kommunistischen Teil Russlands.

Weitere Urteile verhinderte General Kemal Mustafa (später Atatürk), indem er drohte, alle britische Kriegsgefangenen in seinem Herrschaftsbereich zu erschießen, wenn noch weitere Todesurteile gegen die Täter des Genozids ausgesprochen oder vollzogen werden.

Dies war der Ausgangspunkt der Operation Nemesis. Der in Boston lebende ehemalige armenische Parlamentsabgeordnete Armen Garo initiierte eine verdeckte Aktion, dass alle vom türkischen Kriegsgericht in Abwesenheit verurteilten Verantwortlichen des Völkermords an den anatolischen Armeniern getötet werden. Soghomon Tehlirian war Teil dieser Operation: große Teile seiner Familie wurden ermordet.

Damit schließt sich der Kreis dieses Buches.

Der Istanbuler Bürgermeister Recep Tayyip Erdoğan initiierte, dass Enver Pascha 1996 in Istanbul ein Staatsbegräbnis erhielt.

Infolinks im Spoiler

Der Autor:
Wikipedia: Rolf Hosfeld

Rezensionen:
https://www.cicero.de/kultur/rolf-hosfeld-operation-nemesis/45316
http://www.sehepunkte.de/2006/05/pdf/8885.pdf

Völkermörder als Märtyrer in Erdogans Türkei:
https://diepresse.com/home/zeitgeschichte/4715271/Gallipoli_Wie-die-Tuerkei-ihre-Geschichte-veraendert

Operation Nemesis:
Wikipedia: Operation Nemesis (Englisch)
https://info.arte.tv/de/operation-nemesis
https://www.nytimes.com/2015/04/19/books/review/19bkr-kanon.t.html
http://www.operationnemesis.com