f829c0835b0d01a2 Hell-Budapest


Der Wiener Picus-Verlag hat eine Reihe mit dem Titel Lesereise, und der österreichische Journalist, Kritiker und Übersetzer (aus dem Litauischen) Cornelius Hell hat auf Basis seiner eigenen Biographie ein Buch über Budapest verfasst. Eigene Biographie bedeutet, dass er aufgrund seiner Ehe mit einer Ungarin (Stand: 2010) mit dem Land verbunden ist und auch ein wenig Ungarisch kann.

Das Büchlein (knapp 100 Seiten) ist weder eine Literaturgeschichte noch ein traditioneller Reiseführer, sondern der Text basiert auf einem dreimonatigen Aufenthalt in Budapest, aber auch auf seinen Reiseerfahrungen seit Beginn der 80er Jahre.

Empfehlenswert ist dieser Band für diejenigen, die nicht eine schnelle Budapest-Tour absolvieren wollen, sondern die ein wenig flanieren wollen, kulinarisch gut versorgt sein wollen und kulturell die Stadt genießen wollen.

Für mich, der ich fast ein Jahrzehnt in dieser Stadt gelebt und gearbeitet habe, sind noch einige Zuckerstücke enthalten, die ich nicht kennengelernt habe, so zum Beispiel das Haus des Komponisten Béla Bartok, in dem er bis zu seiner Emigration gelebt und gearbeitet hat.

Literarische Bezüge werden vor allem zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hergestellt, vermittelt durch Gespräche, die Hell als Journalist mit Imre Kertész (Nobelpreisträger), Péter Esterházy und der kürzlich verstorbenen Philosophin Ágnes Heller führte.

Der Blick auf Budapest und Ungarn ist zwar ein Außenblick, aber ein sehr informierter, den ich oft bestätigen kann (im Positiven wie im Negativen), jedoch immer wohlwollend. Und die Besuchsempfehlungen sind erste Sahne, sei es Kultur, sei es Ausflugsmöglichkeiten, sei es Lokalkultur.

Oft sind es die Kleinigkeiten, die mich an diesem Buch, das ich eigentlich aus nostalgischen Gründen zur Hand genommen habe, überzeugen. So zum Beispiel bei einem Besuch der Kindereisenbahn am Jánoshegy (dem Johannes-Berg), von der er zurecht schlichtweg fasziniert ist (Seite 60):
[...] später bemerke ich einen sehr dicken kleinen Schaffner beim Tippen, ganz in sein Handy versunken. Wächst hier die erste Generation heran, mit der ich mein Verhältnis zur Landschaft und zur realen Fortbewegung mit der Eisenbahn nicht mehr teilen kann? Wie weit geht die Entwertung der realen Räume durch die sekundäre Welt digitaler Medien und wie früh beginnt sie? Und was könnte ich diesen Kindern noch erzählen?
Seine Tochter war 2010, als er bei der Kindereisenbahn war, eineinhalb Jahre alt.

Sehr berührend wie auch verstörend ist die Gesprächsnotiz mit Ágnes Heller, der vor ein paar Tagen verstorbenen, aus einer jüdischen Familie stammenden Philosophin, die als Kind 1944 beinahe von Pfeilkreuzler-Schergen in die Donau geschossen worden wäre (Seite 86):
Die Philosophin Ágnes Heller ist damals neben ihrer Mutter in der Reihe derer gestanden, die erschossen werden sollten. Sie war ganz darauf konzentriert, zu den Leichen in den Fluss zu springen, sie wollte die einzige Chance nützen, um zu überleben. Doch ganz plötzlich hörte das Erschießungskommando auf, sie konnten nach Hause gehen. Warum, weiß Ágnes Heller bis heute nicht. Aber die Erinnerungen daran haben sie lange verfolgt. Ich konnte Ágnes Heller in ihrer Wohnung am Gutenbergplatz besuchen; für ein "Menschenbild" des ORF hat sie mir von diesen Erinnerungen erzählt. Und davon, wie sie jahrelang nicht über die Margaretenbrücke gehen konnte, weil sie dann den Zwang verspürte, in die Donau zu springen. Was sie in Todesangst geplant hatte, um sich vielleicht zu retten, kam als Todesobsession wieder zurück.
Auf der Pester Seite des Donauufers, in der Nähe des Parlaments, finden sich heute mehr als 60 Paar Schuhe als Andeken an die etwa 3000 erschossenen jüdischen Ungarn.

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Foto: Nikodem Nijaki/wikimedia.org. Lizenz: CC-by-sa 3.0

Das einzige Manko an diesem Buch sind die fehlenden Fotos.



Verlagsinfo:
http://www.picus.at/produkt/lesereise-budapest-ebook/

Leseprobe auf Google Books:
https://books.google.at/books?id=0rR3DwAAQBAJ