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Der zweite Band umfasst Anton Kuhs Zeitungsartikel wie auch Einzelwerke (bereits vorgestellt) von Mitte 1918 bis Mitte 1923. Vor allem in den Jahren 1921 und 1922 wird der Theater- und Gerichtsreporter sehr dezitiert politisch und setzt sich vor allem mit dem wieder auflebenden Antisemitismus in Österreich und Deutschland sowie mit der Radikalisierung der Politik in Deutschland auseinander, wobei er sich als individualistischer Liberaler immer wieder gegen -ismen und -isten wendet. Vor allem schreibt er über die immer stärker werdende gesellschaftliche Akzeptanz des gewaltsamen Rechtsextremismus in Deutschland, der in den Morden von Matthias Erzberger und Walter Rathenau gipfelte. Sprachlich findet Kuh sein Selbstbewusstsein und seine Texte sind immer mehr von überwältigender Mächtigkeit.

Ein Kernpunkt seiner politischen Schriften ist die Suche nach der Antwort nach der Frage, wer die antisemitischen Rechtsextremisten überhaupt sind, und die Schlussfolgerung ist psychologisch, vielleicht auch auf seiner persönlichen Biographie: Rechtsextremisten sind sind Männer, die nie aus ihrer Pubertät rauskommen, das Unterdrückungsschema ihres Gymnasiastendaseins ins Leben mitnehmen und sich in Gruppenseligkeit einigeln. Individualisten sind sie nicht, sondern Herdenmenschen, die ihre unterdrückte Triebhaftigkeit in Nationalismus, Patriotismus und Gruppentugenden sublimieren.

Doch bei dieser Analyse bleibt Anton Kuh nicht stehen. Nach der Ermordung von Matthias Erzberger 1921 fragt er sich auch im Rückblick auf die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Jahr 1919, wieso diese rechtsextremistischen Gymnasiastenseelen zur Waffe greifen und zu Mörder werden, und seine Konklusio ist, dass deren Kameraden in Richterämtern sitzen und den Mördern überhaupt nichts passiert oder höchstens zu ein paar Jahren "freigesprochen" werden.

Aus der Sicht von 2019 hat Anton Kuh den Nagel auf den Kopf getroffen, da die Mitglieder der Organisation Consul, welche die Morde an Erzberger und Rathenau in Auftrag gab, nie belangt wurden. Im Gegenteil: sie hatten enge Verbindungen zum Münchner Polizeipräsidium, welche Hitler nach seinem Putschversuch in München nutzte und der nur zu einer kurzfristigen Festungshaft verurteilt wurde. Mitglieder der Organisation Consul waren während der NS-Diktatur im engsten Kreis um Hitler, und Friedrich Wilhelm Heinz, ein hoher Funktionär, leitete bis 1953 einen der beiden Geheimdienste der jungen Bundesrepublik Deutschland (der zweite war die Organisation Gehlen, geleitet von dem Chef des Aufklärungsdienstes Fremde Heere Ost während des Zweiten Weltkriegs).

Anton Kuh war ein Seismograph des aufkeimenden Rechtsextremismus in Deutschland, obwohl er selbst nicht mal Deutscher war, sondern Wiener, der aus dem jüdischen Prag stammte. Und 1921 schrieb er nach der Ermordung von Matthias Erzberger folgenden Dreizeiler, der bereits ein Jahr vor der Ermordung Rathenaus diese prognostizierte. Der Dreizeiler selbst war ein Skandal, da sich Deutschnationale aller Coleurs gegen die Inkriminierung als Gewalttäter zur Wehr setzten:
"Knallt ab den Walther Rathenau,
die gottverfluchte Judensau!"
Ein Deutscher des Jahres 1921
Bei anderen Entwicklungen lag er nicht ganz so richtig. So hielt er 1921 die Lösung, dass Südtirol zu Italien gehört und nicht unter der Fuchtel eines nationalistischen Deutschtums steht, für gut, da er die italienische Herrschaft für tolerant hielt (er besuchte Meran, das er als Schnittpunkt zwischen Süd und Nord sieht - ist auch nach meiner eigenen Anschauung noch immer so -, und auch Bozen). Den aufstrebenden italienischen Faschismus unter Mussolini hat Kuh 1921 unterschätzt: das sei eine süditalienische Angelegenheit, und diese Bewegung würde in den Auseinandersetzungen mit Kommunisten und Sozialisten aufgerieben werden.

Bezüglich Österreich lehnt er einen Anschluss an Deutschland grundsätzlich ab und polemisiert gegen diejenigen, die einen solchen wünschen - egal von welcher politischen Seite. Dazu möchte ich anmerken, dass praktisch alle Parteien in Österreich Anfang der 1920er Jahre einen Anschluss an Deutschland angestrebt haben und im ersten Gesetz der provisorischen Nationalversammlung nach dem Ersten Weltkrieg Deutsch-Österreich als Teil Deutschlands, als Bundesland Deutschlands definiert war. Der Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten, der Sozialdemokrat Otto Bauer, hat im März 1919 mit dem deutschen Außenminister sogar eine Absichtserklärung bezüglich des Anschlusses unterzeichnet. Diese Bestrebungen wurden mit den Verträgen von Versaille und Saint Germain hinfällig.

Ab der zweiten Hälfte des Jahres 1922 wendete sich Anton Kuh wieder hauptsächlich seinen Theaterkritiken zu.