Talisman

Nestroy brachte mit großem Geschick immer wieder gesellschaftliche Problemthemen auf die durch die Metternich'sche Zensur geplagte Wiener Volksbühne. Im Stück Der Talisman aus dem Jahr 1840 verwebt er zwei Ebenen:

1. Vorurteile (fokussiert auf die Haarfarbe)
2. Die arrogante Abgeschottetheit der gesellschaftlichen Schichten

Die gesellschaftlichen Schichten werden in diesem Stück durch Haarfarben repräsentiert:

- Rothaarige: Unterschicht
- Schwarzhaarige: bürgerliche Mittelschicht
- Blonde: Oberschicht
- Grauhaarige: Adel

Der rothaarige fahrende Friseurgeselle Titus Feurerfuchs erhält nach Hilfeleistung bei einem Kutschenunfall eine schwarze Perücke, welche ihm den Weg in die gutsherrliche Gärtnerei öffnet, und nur durch den Wechsel der Perückefarben erschließt sich ihm jeweils eine weitere gesellschaftliche Schicht bis hin zum Adel, nur kann das Verkleidungsspiel nicht gut gehen, da er immer wieder erkannt und verstoßen wird. Zuletzt lehnt er eine Erbschaft ab, als diese ihm eine Ehelichung in einem höheren Stand trotz roter Haare ermöglicht hätte, und heiratet die rothaarige Gänsehüterin Salome.
Daß ich nun ohne Erbschaft keine von denen heiraten kann, die die roten Haar' bloß an einem Universalerben verzeihlich finden, das ergibt sich von selbst; ich heirat' die dem Titus sein'n Titus nicht zum Vorwurf machen kann, die schon auf den rotkopfeten pauvre diable a biss'l a Schneid hat g'habt, und das glaub' ich, war bei dieser da [Salome] der Fall.
Auch bietet das Stück Potenzial, nicht nur possenhaft gespielt zu werden, da es beim ersten Auftritt von Salome sehr wohl einen höchst aggressiven jugendlichen Mob auf die Bühne bringt, der Salome sich als Opfer wählt:
SALOME (in ärmlich ländlichem Anzug und rote Haare, kommt aus dem Hintergrunde links). Da geht's ja gar lustig zu; wird schon au'm Tanzboden 'gangen, net wahr?
CHRISTOPH (kalt). Is möglich.
SALOME. Ös werdt's doch nix dagegen hab'n, wenn ich auch mitgeh'?
HANNS. No ja, – warum net, – mitgehn kann jed's.
CHRISTOPH (mit Beziehung auf ihre Haare). Aber's is weg'n der Feuersg'fahr.
HANNS (ebenso). Es is der Wachter dort –
CHRISTOPH (wie oben). Und der hat ein'n starken Verdacht auf dich; du hast deine Gäns' beim Stadl vorbeitrieben, der vorgestern abbrennt is.
HANNERL. Und da glaubt man, du hast'n anzund'n mit deiner Frisur.
SALOME. Das is recht abscheulich, was ihr immer habt's über mich; – aber freilich, ich bin die einzige im Ort, die solche Haare hat. Für die Schönste wollt's mich nicht gelten lassen, drum setzt's mich als die Wildeste herab.
DIE MÄDCHEN. Ah, das is der Müh' wert, die wollt' die Schönste sein!
CHRISTOPH (zu Salome). Schau halt, daß d' ein Tänzer find'st.
SEPPEL (ein sehr häßlicher Bursch). Ich tanz' mit ihr, was kann mir denn g'schehn?
CHRISTOPH. Was fallt dir denn ein? Ein Kerl wie du, wird doch eine andere krieg'n?
SEPPEL. Is auch wahr, man muß sich nit wegwerfen.
1976 wurde diese Szene bei den Salzburger Festspielen durchaus aggressiv auf die Bühne gebracht. Ab 2:13 im Spoiler

https://www.youtube.com/watch?v=cfktkXIYOY8 (Video: Gabriele Schuchter und Georg Schuchter in Johann Nestroys "DER TALISMAN" (1976))