Genanalysen weisen auf Diversität in der ältesten frühstädtischen Bevölkerung Europas hin

Urgeschichtliche Tripolye-Gesellschaften, die sich vom Ende des Neolithikums bis zur frühen Bronzezeit in weiten Teilen Osteuropas ausbreiteten, zählen zu den großen Rätseln der europäischen Archäologie. Sie schufen zwischen 4.100 und 3.500 vor Christus die größten Siedlungen dieser Zeit in Europa, sogenannte „Megasites“ mit bis zu 15.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Über außergewöhnliche Funde und die Architekturhinterlassenschaften lassen sich Wirtschafts- und Siedlungsweise gut rekonstruieren, aber über die Menschen, die dort lebten, ist nur wenig bekannt. Einem internationalen Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gelang es, die genetische Komposition von vier Individuen zu entschlüsseln und daraus Rückschlüsse auf ihre Herkunft und Vorfahren zu ziehen.

Die Tripolye-Gesellschaften spielen eine wichtige Rolle für die europäische Geschichte. Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, Rumäniens und Moldawiens legten sie in ihrer Spätphase in der Zeit von 4.100 bis 3.500 vor Christus die ersten proto-urbanen, also frühstädtischen, Siedlungen an. Archäologische Funde zeugen von einer intensiven Agrarwirtschaft auf den fruchtbaren Lössböden, einem hohen Maß an sozialer Organisation und handwerklichen Aktivitäten, die unter anderem hochwertige Keramik und fortschrittliche Metallurgie hervorbrachten. Menschliche Skelettreste aus Bestattungen sind dagegen kaum auffindbar. Bisher wurden lediglich vier Individuen aus einer Höhle in der Ukraine genetisch analysiert.

Aufgrund der extremen Populationsdichte und des engen Zusammenlebens von Mensch und Tier stellten einige Studien in letzter Zeit die Vermutung auf, dass Tripolye-Siedlungen Ausgangspunkte für das Entstehen von Epidemien wie zum Beispiel der Pest waren. Auch wurde bisher von einer eher homogenen Bevölkerungsstruktur ausgegangen.

Forscherinnen und Forscher des SFB 1266 konnten nun DNA aus den Skelettresten von vier Frauen aus Fundplätzen in der heutige Republik Moldau extrahieren und untersuchen. „Die Einbeziehung dieser neuen Datensätze ermöglicht es uns, ein deutlich nuancierteres Bild der Bevölkerungsbewegung und -dynamik in dieser wichtigen Periode der Frühgeschichte Osteuropas zu zeichnen“, erläutert Professor Ben Krause-Kyora.

Die Analysen des menschlichen Erbguts deuten darauf hin, dass es zwischen den Bewohnern der Tripolye-Siedlungen und den umliegenden Steppengebieten langfristige Kontakte und eine allmähliche Vermischung gab. Das Ergebnis widerlegt das Szenario einer plötzlichen Veränderung des Genoms durch die kriegerische Invasion von Reiterhorden der osteuropäischen Yamnaya-Kultur nach Zentraleuropa um 3.100 vor Christus.

Auch wiesen die vier untersuchten Individuen keine Spuren einer Pestinfektion auf. Die Hypothese, dass die Tripolye-Megasiedlungen durch das enge Zusammenleben von Menschen und Tieren Zentren für die Ausbreitung der Pest waren und dies ihren Niedergang begründete, lässt sich durch diese Studie nicht belegen.

Insgesamt stellten die Forscher bei den bislang untersuchten Individuen eine sehr unterschiedliche genetische Ausstattung fest. „Das weist auf eine relativ hohe Diversität hin und überrascht, wenn man bedenkt, dass sie alle aus der gleichen späten Tripolye-Periode stammen und nur wenige hundert Kilometer voneinander entfernt begraben wurden“, sagt Alexander Immel, wissenschaftlicher Mitarbeiter des SFB und Erstautor der Studie. „Der Befund deutet auf eine Populationsdynamik auch innerhalb einer Kultur hin und stellt die Vorstellung von der scheinbar stabilen und einheitlichen Zusammensetzung der Individuen, die mit einer bestimmten archäologischen Gruppe assoziiert werden, in Frage“, ergänzt Johannes Müller.

EVPsPtMUMAEBHFWOriginal anzeigen (1,1 MB)

Quelle:
https://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/104-sfb1266-multikulti