1984

Nach langer Zeit habe ich das Werk wieder gelesen und muss feststellen, dass die Gut/Böse-Erinnerung sehr trügerisch war. In diesem Werk gibt es kein Gut.

Die vorgestellte Sozialstruktur ist klassisch britisch: eine dreistufige Schichtengesellschaft. Eine kleine oligarchische Oberschicht, welche herrscht, eine auch nicht sehr breite Mittelschicht, die Verwaltungsaufgaben erfüllt, und eine degradierte, willenlose, arme Unterschicht ("Proles"), die 85 % der Bevölkerung ausmacht.

Diese Dreiteilung sei inhärent für alle Gesellschaftsformen, nur die Herrschaft des inneren Zirkels der Partei sei in Ozeanien gebenüber den Vorläufern Nationalsozialismus und Stalinismus perfektioniert worden. Der Reichtum der Oberschicht sei nicht mehr privat, sondern kollektiv, aber nur der durch eine Aufnahmeprüfung als 16-Jähriger zugänglichen inneren Sphäre der Partei zugänglich. Der innere Kreis sei damit frei von Neid und Konkurrenz, kann aber seinem Begehr nachgehen: Macht um der Macht willen, Gewalt um der Gewalt willen, Herrschaft um der Herrschaft willen, Folter um der Folter willen. Es gibt keinen äußeren Zweck mehr, es wird kein Paradies vorgegaukelt, kein Traum einer reichen Gemeinschaft von Gleichen, kein Traum einer Volksgemeinschaft.

Alles außerhalb des inneren Kreises haben sich der Entmenschlichung zu beugen. Liebe darf nur mehr für den Großen Bruder empfunden werden (auch die Liebe zwischen Menschen wird unterdrückt), ansonsten dominiert der Hass. Der Hass gegen Andersdenkende, der Hass gegen eine angebliche Untergrundorganisation Goldsteins, der Hass gegen die ständig wechselnde Kriegspartei (Eurasien oder Ostasien). Die Mittelschicht hat zu funktionieren und wird von der Staatssicherheit (Minilieb/Ministerium für Liebe) permanent überwacht: durch nicht ausschaltbare Teleschirme mit Kameras und Mikrofonen, durch Kameras und Mikrofone im öffentlichen Raum. Die Proles werden gar nicht überwacht, sie werden durch Alkohol, Spiel und seichte Unterhaltung dumpf gehalten. Außerdem sind sie wegen der Mangelwirtschaft permanent gezwungen, Dingen des alltäglichen Gebrauchs hinterherzulaufen.

Nur gibt es keinen Ausweg: jede andere Gesellschaftsform gebiert wieder diese drei Schichten der Gesellschaft. So Orwells sehr düstere Philosophie.

Wie ist es nun mit den Haupthelden? Julia ist nach außen das perfekte junge Mädchen, die ihr Leben nach den Regeln der Partei gestaltet. Selbst jagt es aber eigensüchtigen Vergnügungen nach, vor allem Sexabenteuern. Sie ist keine intellektuelle Rebellin. Eigentlich ziemlich unsympathisch. Und Winston Smith? Er wird als egomanisches Kind gezeichnet, der seiner verhungernden kleinen Schwester noch das letzte Stück Schokolade entreißt. Und beide würden lieber die andere Person gefoltert sehen, als sie in Raum 101 mit ihren Urängsten konfrontiert werden. Winston mit gierigen, hungrigen, Fleisch fressenden Ratten.

Nicht ganz logisch erscheint mir der Teil, als Winston und Julia zu O'Briens Wohnung gehen, einem Mitglied der inneren Partei, weil Winston sich einbildet, er sei Mitglied der Untergrundbewegung Goldsteins. Freimütig bekennen Winston und Julia sich auch dazu, für die Untergrundbewegung zu morden, Terroranschläge zu verüben, Kinder zu verstümmeln. Nein, das sind keine positiven Helden. Alles, was Orwell uns präsentiert, ist Hölle.

Eine weitere Ebene ist, dass die Partei nicht nur in die Gedankenwelt der Mittelschicht eindringen und sie durch Gewalt formen will, sodass die Liebe zum Großen Bruder wirklich empfunden und Absdruses als wahr, wenn die Partei es will (2+2=5). Es soll Widersprüchliches als logisch erscheinen, je nach Situation das eine oder das andere als richtig gesehen werden (Doppeldenk).

Der nächste Schritt ist die Vereinfachung der Sprache (Neusprech). Damit soll erreicht werden, dass Assoziationen und Konnotationen verloren gehen. Nicht nur dass das Geschichtsfälschungsministerium "Ministerium für Wahrheit" genannt wird (der Gegensatz wird ausgedrückt, wie beim Staatssicherheitsminnisterium "Ministerium für Liebe", deren Hauptbeschäftigung Folter "Liebe" genannt wird). Es geht weiter: diese Ministerium werden abgekürzt zu Miniwahr und Minilieb, um Assoziationen zu vermeiden. Auch gibt es keine Wörter mehr für Humanismus, Gleichberechtigung usw. Dies alles wird im Begriff "Deldenk" (= Gedankenverbrechen) subsumiert, ohne dass noch wahrgenommen wird, was denn nun Gedankenverbrechen seien.

In seinen Anmerkungen schreibt Orwell, dass die Idee des Neusprech sich mit dem Abkürzungswahn totalitärer Regime entwickelt habe und mit der Frage, warum so viele Begriffe abgekürzt werden. Die Antwort erschloss sich ihm beim Begriff "Komintern" (Kommunistische Internationale). Damit sei jegliche Assoziation mit den Begriffen "Kommunismus" und "Internationalismus" ausgelöscht, es bleibt die Bezeichnung einer stalinistischen Organisation zurück. Die Ansichten der Organisation seien das Wahre, nicht was ein Mitglied mit "Kommunismus" oder "Internationalismus" verbindet. Sprache als Vehikel totalitären Machtanspruchs.

Die Vorhersagen der kommenden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind ziemlich treffend:

- Hochrüstung auf Kosten des Lebensniveaus (Sowjetunion)
- Permanenter Krieg (Kalter Krieg)
- Stellvertreterkriege in den neutralen Zonen (v.a. Afrika)

Auf der anderen Seite haben es Großmächte nicht zu einer Totalisierung wie in diesem Buch geschafft, sondern Kleinmächte: Nordkorea (bis heute) und Kampuchea unter Pol Pot (vier Jahre). Diese streb(t)en Autarkie an und halten wie hielten ihre Bevölkerung unter der totalitären Knute inklusive Lügen über die realen Lebensverhältnisse.

Immer noch eine faszinierende Lektüre, weil scheinbare Schwächen sich aus dem Logischen der Welt Ozeaniens ergeben. Dort, wo man Postivies erwartet, wird diese Erwartung gebrochen. Es gibt nichts Positives.