Kaestner-Klassenzimmer

Anders als Emil und die Detektive ist dieser Kinderroman von Kästner nicht stringent geführt, sondern zerfleddert sich etwas in Einzelepisoden. Klammer ist ein Knabeninternat im bayrischen Kirchberg (ob fiktiv oder real, habe ich nicht herausgefunden) und eine Freundschaft von fünf etwa Vierzehnjährigen. Dazu kommen ein verständiger Lehrer (Johann Bökh, genannt "Justus", also der "Gerechte") und dessen alte Schulfreund, der in einem Eisenwahnwaggon lebt und am Ende Schularzt wird. Beide Erwachsene haben Schicksalschläge zu verarbeiten und ein großes Verständnis für Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen. Kästner selbst, der den Erzähler in einer Rahmenhandlung über seinen Schreibprozess berichten lässt, formuliert seine Überzeugungen deutlich, dass nämlich Trauer und Traumata von Kindern ernst genommen werden müssen, was immer sie verursacht haben, und sei es eine zerbrochene Puppe. Einer der Imperative von Kästner ist, dass Mut und Vernunft gepaart sein müssen, nur eine der beiden Tugenden zu besitzen, sei schädlich.

Der Roman beginnt mit Jonathan "Johnny" Trotz, dessen Vater ihn mit etwa zehn Jahren aus den USA abschiebt und von der Schwester des Schiffskapitäns großgezogen wird. Am Ende des Romans trifft der Erzähler in der Rahmenhandlung in Berlin auf ihn. Matthias Selbmann ißt unaufhörlich und möchte Boxer werden. In einer Entführungs und Kampfepisode mit einer rivalisierenden Bande der Realschule ist er der Held. Ulrich von Simmern ist klein und ohne Selbstbewusstsein. Um sich zu beweisen, springt er mit einem Regenschirm bewappnet von einer hohen Leiter und bricht sich ein Bein. Mut ohne Vernunft. Immer mehr zur Hauptfigur wird Martin Thaler, der aus einer armen Familie stammt (der Vater ist arbeitslos), die sich nicht mal eine Heimfahrt ihres Sohns zu den Weihnachtsferien leisten kann. Bökh schenkt ihm 20 Mark, damit er Weihnachten mit seinen Eltern feiern kann. Sebastian Frank schließlich ist der Intellektuelle und bekommt keine eigene Episode.

Zwei Sätze stechen mir ins Auge, während die Kampfrituale für mich etwas veraltet, da - im Vergleich zu "Emil" - unmotiviert. Da ist dieser hier, den die Fünf nach einem unerlaubten Fernbleiben zur Befreiung eines von den Realschülern gefangen genommenen und auch gefolterten Mitschülers als von Bökh aufgegebenen Strafe schreiben müssen:
An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.
Damit ist die Befreiungsaktion legitimiert und ich traue Kästner zu, dass er in diesem 1933 erschienenen Roman durchaus ein verstecktes politisches Statement zur NS-Herrschaft abgegeben hat.

Das zweite Bonmot ist eine Stellungnahme zur Moral von Reichtum und Armut.
Martin ist zwar noch ein Kind. Aber er weiß ganz genau, dass Tüchtigkeit und Reichtum nicht dasselbe sind.
Insgesamt ein durchaus lesenswerter Roman, auch wenn der Kontext Knaben-Internat samt zugehörigen Ritualen sowie die doch sehr primitiv gezeichneten Realschüler (Metapher für SA?) mit der Konnotation der Bildungsferne nicht mehr ganz zeitaktuell ist. Die Empathie gegenüber Kinder und Jugendlichen, welche Erwachsene und vor allem Pädagogen haben sollten, ist zeitlos.

Der Titel wird übrigens dem im Internat aufgeführten Weihnachtsstück entnommen, das Schule in den 1970er Jahren zeigt. Die Schüler fliegen in einem Flugzeug zu den Orten des Geographieunterrichts und im fünften Akt driftet das Flugzeug in den Himmel ab, die Schüler landen im religiösen Himmel und konversieren mit Gott und Petrus.