Ein Linker, der die Linken kritisiert und ermahnt, das lobe ich mir mal. :Y: Das, was anderen immer vorgeworfen wird - "zu schweigen", wenn rechtsextremistische Attentate verübt werden, macht das linke Spektrum ebenso. Gut, dass dem mal ein Spiegel vorgehalten wird.
Nach einem rechtsextremen Mord ist Verlass auf linke Empörung in den sozialen Medien. Auf einen islamistischen Mord hingegen folgt Stille, linke Zerknirschtheit - und manchmal sogar Schlimmeres.
.Wieder gab es einen offenbar islamistischen Mord, und der Tatverdächtige ist ein geflüchteter Syrer. Soeben wird bekannt, dass der in Dresden getötete Mann Opfer eines Attentäters war. Was in sozialen Medien in den nächsten Stunden und Tagen folgen wird, ist ein trauriges, weil ritualhaftes Schauspiel.
Damit meine ich nicht den daraufhin eskalierenden, rechten Hass. Sondern den Umgang oder besser Nichtumgang der linken und liberalen Zivilgesellschaft mit diesem mutmaßlich terroristischen Mord, der auf einer faschistischen Ideologie beruht: zum Großteil Schweigen.

Kevin Kühnert hat dankenswerterweise bereits aufgeschrieben, dass die Linke in Deutschland sich mit diesem "wohl blindesten Fleck" beschäftigen und lautstark Position gegen den mörderischen Islamismus beziehen müsse. Das ist absolut richtig, aber kann nur der Anfang sein.

Eine Form von Verniedlichungsrassismus

Die Diagnose: Die deutsche Linke - und auch die Liberalen und Bürgerlichen - haben zweifellos versäumt, eine nichtrassistische Islamismuskritik zu entwickeln. Das ist katastrophal genug. Aber in sozialen Medien wird sich nach dem Dresdner Mord - wie nach islamistischen Attentaten üblich - eine weitere, nämlich emotionale Dimension entfalten. Nach dem von Kühnert beschriebenen, bitteren Schweigen bestehen die zögerlich eintreffenden, linken Wortmeldungen nämlich aus einer eigentümlichen, betretenen Traurigkeit. Vergleichbar mit den Reaktionen auf eine Naturkatastrophe, gegen die man halt leider, leider nichts tun kann.
Man erkennt die Absurdität im direkten Vergleich: Auf einen rechtsextremen Mord folgt linke Empörung, auf einen islamistischen Mord folgt eine stille, linke Zerknirschtheit, wie man sie Erdbebenopfern entgegenbringt. Manchmal sogar ergänzt durch Relativierungen.

Zum Mord in Paris schrieb jemand ernsthaft: "Ist nicht der Kapitalismus und sein Umgang mit armen Menschen und Ländern am islamistischen Extremismus schuld?" Das ist nicht nur bizarr geschichtsvergessen und stumpf. Es ist auch eine Form von Verniedlichungsrassismus, wenn man muslimischen Menschen und ganzen Ländern in toto die Verantwortung für ihr eigenes Handeln abspricht und stattdessen offenbar glaubt, alles, was auf der Welt geschieht, sei ausschließlich eine Reaktion auf den bösen Kapitalismus der weißen Europäer und Amerikaner.
Regelmäßig beobachte ich nach islamistischen Anschlägen wie in Dresden als erste linke Reaktion die Sorge über daraus resultierenden rechten Hass. Der islamistische Hass wird so en passant ausgeblendet. Ich denke, dieser Unterschied resultiert aus einer heimlichen Hierarchisierung: Für viele Linke scheint es eine Menschenfeindlichkeit erster und eine Menschenfeindlichkeit zweiter Klasse zu geben. Bitter nachzuvollziehen etwa bei muslimischem Antisemitismus, der von links in Deutschland überraschend selten adressiert und manchmal sogar noch als "Israelkritik" wohlwollend einsortiert wird.

Desinteresse und moralische Faulheit

Die meisten Linken (ich auch) haben es anders erhofft - aber es gibt einen islamistischen Radikalisierungsprozess unter Geflüchteten. Und er findet ziemlich sicher mit und in sozialen Medien und in bestehenden, islamistischen Strukturen statt. Es ist keine Option, diese Tatsachen in der Debatte von links elegant auszusparen und womöglich noch mit Islamisten gemeinsame Sache zu machen, weil man deren vorgebliches Eintreten gegen Rassismus für bare Münze nimmt.
.Manche behaupten, das Schweigen käme daher, dass Linke Angst haben, bei jedweder Kritik des Islamismus als "rassistisch" gebrandmarkt zu werden. Das mag manchmal zutreffen. Meiner Ansicht nach steht dahinter aber eher Desinteresse einerseits und moralische Faulheit andererseits.

Das Desinteresse besteht darin, sich von links selten bis gar nicht für die tatsächlichen migrantischen Sphären zu interessieren, die unendlich vielfältig und eigenständig und komplex sind. Stattdessen definiert man praktischerweise ohne nähere Nachfrage migrantisch geprägte Menschen und erst recht Muslime ausschließlich als zu schützende Minderheit, als irgendwie mitleidpflichtigen Migrantenmonolith.

Das fehlende linke Interesse wird komplettiert durch mangelnden Dialog, und genau deshalb konnte in Deutschland etwa eine gigantische, fast 20.000 Mann starke, türkische, rechtsextreme Bewegung entstehen. Von der überraschend viele, sonst lautstarke Linke nicht einmal gehört haben. Die moralische Faulheit wirkt noch schlimmer. In zu vielen linken Köpfen hat eine eigentlich schlichte Erkenntnis keinen Platz: Menschen können zugleich Opfer von (strukturellem) Rassismus sein und Täter in Sachen Menschenfeindlichkeit.
Tara "sternenrot", eine so präzise wie smarte, deutsch-iranische Beobachterin der politischen Szenerie aus linker Perspektive, hat zum islamistischen Mord in Paris getwittert:

"In Frankreich ist ein Lehrer hingerichtet worden, nachdem er die Mohammed-Karikaturen im Unterricht besprach. Und ich verstehe, dass nicht jeder etwas dazu schreiben kann und mag. Aber auch in meiner [Timeline] war es erstaunlich still zu diesem Thema. Ich kann nur sagen, der politische Islam & Rechtsextremismus sind sich sehr ähnlich in ihrer Ideologie, ihrem Vernichtungswillen und somit auch ihrer Gefährlichkeit. Eine Linke, die sich nicht geschlossen gegen beides stellt, ist nichts wert. Eine Auseinandersetzung ist ein Muss."

Sie trifft einen essenziellen Punkt, nämlich die fehlende Bereitschaft allzu vieler deutscher Linker, Islamismus als die faschistoide Bedrohung der liberalen Demokratie zu betrachten, die er ist.

Die Opferhaltung dient oft als Rechtfertigung für Gewalt

Interessanterweise decken sich manche linke Einlassungen mit den Mustern, die von Islamisten selbst im Netz verwendet werden. In französischen sozialen Medien verbreiteten Tausende Menschen nach dem Pariser Anschlag die Behauptung, das Attentat sei vom Westen inszeniert, um "den Islam in Verruf zu bringen". Oder um "von den wahren Problemen abzulenken".

Es handelt sich um eine islamistische Täter-Opfer-Umkehr, die ähnlich auch bei Rechtsextremisten beliebt ist. Sie geht einerseits einher mit einer großen Nähe zu Verschwörungstheorien und ist andererseits auch brandgefährlich, weil die Opferhaltung oft als Rechtfertigung für Gewalt dient. Denn Opfer dürfen sich nach ungefähr jedem moralischen Empfinden noch stets selbst verteidigen.

"Wer den Propheten entweiht, soll sich der Konsequenzen bewusst sein", lautet ein Satz* aus einem deutschsprachigen sozialen Medium, anschließend folgt die Gleichsetzung des Pariser Mordopfers Samuel Paty mit einem Tier. Das lässt nicht nur auf ein faschistoides Weltbild schließen, es findet auch eine Verantwortungsabwehr statt: Ihr tragt die Schuld, dass der arme, arme Attentäter gar nicht anders konnte, als Samuel Paty zu köpfen. Weil der islamistische Mörder von der Polizei erschossen wurde, finden sich in französischen sozialen Medien Begriffe wie "Märtyrer" und sogar ohne jede Kenntnis der Situation Klagen über Polizeigewalt gegen den Attentäter.
Wenn man die Genese des monströsen Terrorakts in Paris betrachtet, wird auch deutlich, wie relevant dabei die Kommunikation in sozialen Medien dabei ist. Dass eben nicht nur einzelne Islamisten zur Ächtung von Paty aufgerufen haben, sondern eine breitere Empörung eine wesentliche Rolle spielt. Der muslimische Vater einer Schülerin von Samuel Paty nahm ein Video auf, das als Basis für die letztlich tödliche Hetze betrachtet werden muss. Er veröffentlichte auch die persönlichen Kontaktdaten des Lehrers. Der Clip verbreitete sich über soziale Medien wie Facebook, WhatsApp und andere Messenger und führte zu Aufruhr weit über eindeutig islamistische Kreise hinaus. Angeheizt wurde diese Wut von falschen Gerüchten, Unterstellungen und absichtsvoll eskalierenden Lügen in weiteren Videos und Kommentaren.

Eine zentrale Rolle spielte dabei der Imam Abdelhakim Sefrioui, ein inzwischen verhafteter islamistischer Extremist, gemeinsam mit dem Vater der Schülerin. Es lässt sich in Teilbereichen der französischen, muslimisch geprägten, sozialen Medien eine Erregungsbereitschaft ausmachen, die nach den Erkenntnissen über Social Media wahrscheinlich als Nährboden für Gewalt funktioniert. Selbst wenn die allermeisten Menschen darunter den Mord keinesfalls gutheißen.

Die Linke muss sich empören

Die Parallelen zu den rechtsextremen Erzählungen, die zu Attentaten etwa auf Geflüchtete beitragen, sind unübersehbar: In beiden Fällen wirken soziale Medien als eine Art Linse, wo eine breite, nicht selten mit Falschmeldungen angefachte Empörung verdichtet wird und gewaltbereiten Extremisten das Gefühl vermittelt, sie würden in einer Art Auftrag der Mehrheit handeln. Was falsch ist, wie man anhand der überragend vielen Äußerungen von französischen und auch deutschen Muslimen erkennt, die von Empathie und ehrlicher Erschütterung geprägt sind.

Genau diese Menschen sind ein Teil der notwendigen Gegenwehr gegen solche islamistischen Attentate: die muslimische Zivilgesellschaft. Wie die knalldeutsche Zivilgesellschaft trägt sie eine Mitverantwortung, ihren extremistischen Ausläufern mit ständiger, harter Abgrenzung und Ächtung zu begegnen.

Ein anderer Teil der Gegenwehr ist, dass gerade diejenigen deutschen Linken, die sich - zum Glück! - sonst über jede Menschenfeindlichkeit empören, ihre Zurückhaltung gegenüber dem Islamismus aufgeben - und sich über islamistischen Terror empören. Empört euch! Sonst könnt ihr euch eure Moral in die mit sicherlich fair gehandeltem, mikroplastikfreiem Shampoo gewaschenen Haare schmieren.
Quelle: https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/islamistische-anschlaege-die-linke-social-media-empoerung-bleibt-aus-kolumne-a-9ac7415a-f0d2-4d7d-8279-e5c606f2a82f