Glavinic-Coronaroman
Bild: Infografik WELT

Von 19. März bis 20. April 2020 veröffentlichte der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic einen Corona-Text in 26 Teilen in der WELT. Da sich außer dem ersten Teil alle weiteren hinter einer Paywall befanden, habe ich mir sogar ein E-Abo zugelegt. Da der Text eher stärkerer Tobak ist, habe ich ihn mir zusammenkopiert und zu einem E-Book mit 26 Kapiteln zusammengestellt, dem ich mich heute Abend gewidmet habe.

Das Ich dieses Tagebuchromans ist ein Alter Ego von Glavinic: schwer depressiv, auf Antidepressiva angewiesen, hypochondrisch, zurückgezogen in einer kleinen Wohnung lebend, vom Gerichtsvollzieher bedroht, pleite.

Alter Ego? Glavinic ist ein Bestseller-Autor! Nur leider wirklich schwer depressiv, und nach einer selbst eingeleiteten Scheidung hat er die Kontoführung seiner Ex-Frau überlassen, und die hat zwei Jahre lang vergessen, das Geld für Steuer, Sozialversicherung, fixe Ausgaben (50 % des Einkommens) auf ein zweites Konto zu legen, und Glavinic hat alles Geld vom ersten verbraucht, ohne je zu kontrollieren, ob alles stimmt. Am Ende stand er mit riesigen Schulden da, auch bei Finanz und der Sozialversicherung für Künstler. 2019 hat er sich diesbezüglich sehr offen geoutet (WELT - hinter Paywall).

Also zum Corona-Roman. Er ist ein Mix aus Reflexionen über die Befindlichkeiten des Ich-Erzählers, der Beobachtung des Infektionsszenarios und der wirtschaftlichen Entwicklung (vor allem in Bezug auf Arbeitslosigkeit) und einer Einschätzung der gesellschaftlichen Auswirkung der Gesamtsituation. Auffällig dabei ist, dass Gewaltfantasien eine immer größere Rolle spielen, je länger der Lockdown und damit die Isolation dauert. Zu Beginn wird noch beschrieben, wie Geld für den Lieferanten in ein Kuvert gegeben wird und beim Apotheker Einweghandschuhe verwendet werden. Am Ende wird über Idioten, Nicht-Idioten, Amokläufe, Massen- und Serienmord sinniert.

Zu Beginn bereits werden die Statistiken und die extrem hohen Todesraten beobachtet und es wird konstatiert, dass die Pandemie für viele sehr ungemütlich werden könnte, nicht nur für die Alten. Einige Wochen später, Mitte April, verstören ihn immer noch die enormen Todeszahlen in Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden und er äußert die Befürchtung, dass eine zu frühe Lockerung auch in Deutschland und Österreich zu einem "Gerontozid" führen könne. Wenn ich mir die Übersterblichkeitszahlen für Österreich für November und Dezember ansehe: so unrecht hat er nicht mit seiner Befürchtung.

Bei manchen Beobachtungen bleibt einem fast der Atem weg:
In Madrid musste vor zwei Tagen eine Eishalle zum Leichenhaus umfunktioniert werden, weil die Zahl der Toten dramatisch gestiegen war. In mehreren Altenheimen stießen Soldaten auf verwirrte Bewohner, die schon vor einigen Tagen sich selbst überlassen worden waren, und in vielen Betten lagen bereits Leichen.

Man muss sich vor Augen führen, was das heißt. Menschen, die zu uns gehören, die bloß ein wenig früher zu leben begonnen haben als wir, werden von den Jungen schon in diesen ersten Tagen einer Weltkrise aussortiert bzw. zum Verhungern und Verdursten zurückgelassen. Die Tatsache, dass manche von uns schon nach einer Woche Ausnahmezustand begonnen haben, die Humanität zu begraben, könnte ein Zeichen dafür sein, dass neben unserer Gesundheit auch unsere Würde auf dem Spiel steht.
Eine der Ursachen, oder die Ursache für Glavinic, dessen Alter Ego eigentlich total zurückgezogen lebt, ist das Ende aller sozialen Bindungen, durch die Pandemie aber auch durch die Maßnahmen:
Der Mensch reduziert sich gerade auf die Einzelheit.
Sehr angewidert stellt er sich auch gegen das Konzept der Herdenimmunität, die zwar erreicht werden könne, aber möglicherweise nicht lebend.
Boris Johnson [...] setzt auf Herdenimmunität, die erreicht wird, wenn etwa zwei Drittel der Bevölkerung die Krankheit hatte, aber nicht mehr hat, was die Möglichkeit einschließt, dass sie gelebt hat, aber nicht mehr lebt.
Sehr präzise vorausblickend sieht er einen aufkommenden Widerstand gegen die Maßnahmen, vor allem die Argumentation, wie sie augenblicklich aktuell ist:
Ich fürchte, irgendwann könnten die ersten Menschen nicht ganz zu Unrecht auf die Idee kommen, die soziale Distanzierung als Hausarrest zu empfinden und, unterstützt von Verfassungsrechtlern und manchen Medien, damit beginnen, sich den Beschränkungen zu widersetzen. Je mehr Menschen die Straßen in Besitz nehmen, je mehr Restaurants und Geschäfte unerlaubt öffnen würden, desto schwieriger würde die Lage der Sicherheitsorgane.
Solche Passagen machen eine "verspätete" Lektüre noch interessanter. Selbst die Verschwörungstheorie bezüglich "Microsoft", wie er noch schreibt, wird im April von ihm dokumentiert. In dem interessanten Zusammenhang, dass das Alter Ego offen gesteht, so manchen Verschwörungstheorien selbst nachgehangen zu sein, selbst ein "Idiot" gewesen zu sein.

Ich hoffe, Glavinic erfängt sich wieder, denn ich halte ihn durchaus für einen Autor mit nicht versiegtem Potenzial an Fantasie, mit ausgeprägter Beobachtungsgabe und weitsichtiger Reflexion.