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Dieses dünne Büchlein (60 Seiten) ist das erste, das ich von Vuillard gelesen habe. Es ist eine knappe Skizze Thomas Müntzers, die in der Hinrichtung seines Vaters 1500, die er als Zehnjähriger miterlebt, die Grundlegung seines rebellischen Charakters sieht.

In knappen Sätzen peitscht der Roman - oder ist es ein Essay? - durch die Lebensgeschichte Müntzers, dessen geistigen Vorfahren (direkter Zugang des Menschen zu Gott, Gleichheitsgedanke, Jesus als Erlöser der Armen) in Wyclif und Jan Hus sieht. So predigt auch Müntzer in Prag, bis er schließlich um 1520 auch aus persönlicher Beleidigung (das Persönliche ist Vuillard sehr wichtig) ein Prediger des Aufstands wird. Die Herrschaft der Adeligen werde ein Ende finden wie das Reich Nebuchadnezars und das Reich Gottes, ein Reich der Gleichheit, werde geschaffen. Seine Predigten reißen mit, aber sie wirken wie Hassreden eines gewaltbereiten Fundamentalisten, was er wohl auch war. Über seine Allstedter Predigten schreibt Vuillard:
Und Müntzer begnügt sich nicht nur mit einer hübschen Auslegung, die Temperatur steigt weiter. Er zitiert Johannes: »Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.« Er zitiert Lukas: »Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, dass ich über sie herrschen sollte, bringet her und erwürget sie vor mir.« Er zitiert aus den Psalmen: »Du sollst sie mit einem eisernen Zepter zerschlagen, wie Töpfe sollst du sie zer­schmeißen.« Wie gewalttätig er plötzlich ist, wie es in ihm hochkocht! Und in dieser furchtbaren Schmährede versteckt er mit erschreckender Ernsthaf­tigkeit ein paar kuriose Beleidigungen. Vor allem ersetzt Müntzer das von jeher beschworene brave Volk Gottes - jenes stumme, erbärmliche und wil­lige brave Volk, dem man seine Ladung Weihwasser verpasste - durch ein anderes, aufdringlicheres, hitzigeres Volk, ein echtes Volk, die armen Laien und Bauern. Man ist meilenweit entfernt von dem netten Christenvolk, dieser Plattitüde aus dem Katechismus, hier geht es um den gemeinen Mann.

Und dieses Volk stinkt, es murrt, aber es denkt auch. Stellen Sie sich bitte vor, wie hässlich sich zwischen den Wörtern Verbrecher, Schwert, Ruinen, er­ würgt Sie ein Satzteil wie die armen Laien und Bauern ausnimmt. Die Fürsten sind verdrossen. Und gegen Ende der Predigt fallen immer wieder die Aus­ drücke Zorn Gottes, Zorn Christi, Zorn der göttlichen Weisheit.
An anderer Stelle:
Ja, Müntzer ist gewalttätig, Müntzer faselt. Er ruft hier und jetzt zum Reich Gottes auf, ein Ausbund an Ungeduld. Ja, so sind die Empörten, eines schönen Tages quellen sie aus dem Kopf der Völker wie die Gespenster aus den Wänden.
Müntzer rührt den Aufstand, der gewalttätig ist, und er sammelt das "gemeine Volk" zu einem Heer, die Fürsten verhandeln und mobilisieren gleichzeitig, die Schlacht bei Frankenhausen war nicht zu gewinnen. Gehetzt schildert Vuillard, wie das Gemetzel begann, als das Bauern- und Städterheer flüchtete. Das Buch endet mit einem Bittbrief von Müntzers Frau und der Hinrichtung eines Gefolterten.

Die Kritik schwankt in der Beurteilung dieses Kurztextes. Sie reicht von einem Verknappungskunstwerk im Stile Stefan Zweigs bis hin zum Vorwurf, während der Gelbwestenproteste ein unfertiges Manuskript versilbert zu haben.

Ich stehe in der Mitte. Die Knappheit hat was, aber ausgegoren ist es auch wieder nicht. Aber vielleicht war es gewollt, denn die Welt konnte vor fünfhundert Jahren durchaus schwarz-weiß gesehen werden, und das normale Volk hatte in der Regel keine Fürsprecher, die sich gegen ihre Knechtung und Armut einsetzten.