Papa Hamlet

1889 bringen das Autoren-Duo Arno Holz und Johannes Schlaf einen Erzählband mit drei Erzählungen auf den Markt, aber nicht unter ihren Namen, sondern als fingierte Übersetzung eines nicht existierenden norwegischen Schriftstellers namens Bjarne P. Holmsen aus Trondheim. Sie springen damit auf die Naturalismus-Welle auf und der Grund, warum sie einen Norweger wählen, heißt wohl Ibsen, der zu der Zeit der Renner war.

Die Titelgeschichte radikalisiert naturalistische Themen und Motive, kontrastieren diese jedoch ironisch mit dem Verweis auf eines der bekanntesten Dramen der Hochkultur.

Schauplatz ist - sehr naturalistisch - ein verarmter Haushalt. Der aus eigener Schuld arbeitslose Hamlet-Darsteller Niels Thienwiebel lebt mit seiner Frau, die mit Stickereien noch Geld herbeischafft, und mit einem gemeinsamen, dauernd schreienden Säugling in Untermiete. Mit den Mietzahlungen sind sie in Rückstand, es droht die Delogierung.

Niels Thienwiebel rezitiert zu Beginn immer wieder Textstellen aus Hamlet, das Kind ist auch noch mit dem Namen Fortinbras getauft, auch werden noch Freunde zum Skat-Spielen geladen, doch mit der Zeit enden diese Spielrunden, die Vermieterin wird aggressiver wegen der Rückstände, und der schreiende Säugling treibt Niels immer mehr an den Rand des Wahnsinns. Einmal schon drückt er das Kissen auf seinen Mund, wobei die Tötung noch verhindert werden kann, beim zweiten Mal ist das Kind tot. Affektmord. Der Mann wird beim aggressiven Beischlaf mit seiner Frau durch das Schreien gestört. Eine Woche später wird Niels Thienwiebel erfroren im Schnee aufgefunden. Ein Rauschopfer. Seine Frau Amalie wird wahnsinnig. Die Erzählung endet.

Das ist wohl eines der radikalsten Werke des Naturalismus. Suff, Lebenssituation und die Zeit der Arbeitslosigkeit ergeben eine toxische Mischung, die Niels Thienwiebel zur Tötung des Kinds treibt.

Holz und Schlaf trieben in einer gemeinsam bewohnten Wohnung in Berlin die Kunstrichtung des Naturalismus ins Extrem, und sie förderten die Publizität durch das Spiel des nicht existenten norwegischen Autors. Wohl wissend, dass unter ihren echten Namen diese Erzählung in ihrer Radikalität vernichtet wird. So sind die Auszüge aus zeitgenössischen Rezensionen, die diesem Band vorausgehen, auch sehr gemischt. Von Begeisterung über Irritierung bis zur Ablehnung. Fun fact: Selbst Rezensionen aus dem skandinavischen Raum fallen auf die Norwegen-Story rein.

Heutzutage wird diese Erzählung noch zum Teil an Schulen gelesen, wobei sie jedoch beschnitten wird. Es werden Stilanalysen zum sogenannten Sekundestil eingefordert. Sprich: Die Lebenssituation der Familie Thienwiebel wird oft so beschrieben, dass wie in einem Film Beschriebenes und Lesedauer identisch ist. Damit schafft man auch eine Distanzierung zum Dargestellten. Aber solche Familienkatastrophen stehen auch heute immer noch in den Zeitungen. Der Hintergrund ähnelt immer noch den hier beschriebenen desolaten Lebensumständen.

Aktuell? Immer noch.