Kraus-Wand

Das ist das zweite Buch, das ich vom liberalkonservativen Doyen der deutschen Bildungspolitik und langjährigen Praktiker als Gymnasialdirektor Josef Kraus gelesen habe (nach dem Buch über die Helikopter-Eltern), und hier stellt er wort- und argumentationsgewaltig sein Schul- und Bildungskonzept vor.

Kernpunkt ist, dass er die Entwicklungen in Richtung Bildungsstandards, PISA-Testungssysteme und Bologna-Universitätssystem sowie das Muss einer höheren Abiturquote ablehnt, da er einerseits ein Schwinden der Bildung, die nicht auf ökonomischen Zwängen beruht und die ein Humboldt und ein Adorno eingefordert haben, erkennt. Das Niveau sinkt, Universitäten und Hochschulen verlangen immer mehr ein Aditur (Aufnahmeprüfungen nach dem Abitur, das eigentlich einen Hochschulzugang gewährleisten soll, werden zusätzlich eingerichtet). Andererseits hätten Länder mit einem gegliederten Bildungssystem, das jungen Menschen auch die Möglichkeit einer qualifizierten Berufsausbildung ohne Abitur anböten, bessere Wirtschaftsdaten und eine geringere Jugendarbeitslosigkeit als Länder mit sehr hohen (billigen) Abiturquoten.

Ganz besonders schießt er sich auf die Bertelsmann-Stiftung ein, welche massiv den PISA- und Bologna-Prozess unterstützt, ohne dabei auf Seitenhiebe zu verzichten, die auf die NS-Vergangenheit des Bertelsmann-Konzerns wie auch auf seine Dominanz bei "bildungsfernen" Medien wie RTL-Deutschland eingehen. Eine Einmischung nicht demokratisch legitimierter Privater in die Bildungspolitik lehnt Kraus ab.

In sehr süffisant, jedoch immer mit belegtem Datenbestand geschriebenen Kapiteln, lässt er sich über den Erlebnis- und Unterhaltungsunterricht aus, verdammt die Rechtscheibreformen ab 1996 als Chaos im ökonomischen Interesse der Schulbuchverlage, was dazu geführt habe, dass viel mehr Schreibfehler gemacht werden, weil die Verwirrung zu groß ist. Beeindruckend ist sein Beispiel, wie die Getrenntschreibung von zusammengesetzten Verben ermöglicht wurde:
Man müsse die Diskriminierung von Fremden bewusst machen.
Man müsse die Diskriminierung von Fremden bewusstmachen.
Diese beiden Sätze sagen genau das Konträre aus, wobei der Unterschied der Aussagen nun jedoch verschleiert werden kann. Der Duden lässt diese völlig absurde Alternativschreibung von /bewusstmachen/ immer noch zu, obwohl es 2017 wieder mal eine Reform der Rechtschreibreform gab.

In der von ihm konstatierten Tendenz zur Vereinfachung der Sprache (Rechtschreibreform, ein in der NS-Zeit in Angriff genommenes und 1996 umgesetztes Projekt, sowie "leichte Sprache") sieht Kraus im Gegensatz zu deren Befürwortern keine Chance, dass sogenannte Bildungsferne mehr Möglichkeiten erhalten, im Gegenteil, Schule sei immer weniger der Ort, um allen einen elaborierten Code (eine komplexe Sprache) zu ermöglichen, sondern dieser werde nur mehr in sowieso privilegierten Haushalten ermöglicht. Kinder blieben im Schulkontext auf einem restringierten Code (einer eingeschränkten Sprache) stecken und hätten im weiteren Lebensweg mit großen Problemen zu kämpfen. Sie könnten nicht mal mehr ein halbwegs fehlerfreies Bewerbungsschreiben verfassen. Ab drei Fehlern würden solche in der Tonne landen, eine Chance auf ein Bewerbungsgespräch sei nicht mehr gegeben. Schulen, die den Anvertrauten nicht mehr die Möglichkeit des Erlernens einer korrekten Verwendung der Schriftsprache böten, würden der unterlassenen Hilfeleistung schuldig.

Ähnliches konstatiert er im Bereich des Wissenserwerb. Dieser würde immer mehr mit dem Ziel von Meinungsäußerungen auf Basis irgendwelcher Kompetenz-Leerphrasen (das Kompetenzkapitel ist sehr sarkastisch!) zurückgeschraubt werden. Es zähle nicht mehr Urteilskraft, sondern Gesinnung. Ohne Fakten sei das nichts. Und er bemüht den berühmten Aphorismus der österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach: "Wer nichts weiß, muss alles glauben."

Düster werden seine Prognosen über die Aussichten eines Sozialstaates: Wenn die Schule nicht mehr die Grundlage dafür lege, dass die Leistungsfähigen im Erwachsenenleben Leistung erbringen können, bricht die wirtschaftliche Basis des Sozialstaats zusammen. Er hätte nicht mehr die finanziellen Mittel, diejenigen zu unterstützen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sind, sich auf Basis eigener Tätigkeit zu erhalten. Dies wäre eine Katastrophe.

Überflogen habe ich das sehr schulspezifische Kapitel über die Ganztagsschule, aber auch seine Kritik an einer geschlechtergerechten Sprache, obwohl dieses ziemlich witzig geschrieben ist.