Sowjetvolk

Letztes Jahr wurden vom Moskauer Orientalisten Igor Wsewolodowitsch Moscheiko, der unter dem Pseudonym Kir Bulytschow nach den Strugatzki-Brüdern der beliebteste SF-Autor der Sowjetunion war, drei Erzählungen und ein Roman in einem Sammelband herausgegeben, die während der kommunistischen Herrschaft nicht veröffentlichbar waren. Dies ist die Titelgeschichte. Und typisch für die sowjetische SF: Im Zentrum steht die eigene Gesellschaft.

Am Ufer der Moskwa taucht im Jahr 1982 eine Kabine auf und an alle Bürger der Sowjetunion ergeht eine Botschaft, dass die Psychologen der Gemeinschaft Galaktischer Zivilisationen ein Experiment durchführten, um herauszufinden, wer unter den Verstorbenen die beliebteste Person sei. An einem bestimmten Tag um 12 Uhr Mittag werde aus dieser Kabine die Person heraustreten, an welche die meisten Sowjetbürger zur gleichen Zeit gedacht haben.

Wir verfolgen eine Sitzung des Politbüros der KPdSU, in der einerseits gerätselt wird, was dies für eine Aktion sei und ob eine ausländische Provokation dahinterstehe. Andererseits wird entschieden, dem Volk eine Gedankenrichtung vorzugeben. Stalin scheidet aus, Lenin wäre eine Provokation gegenüber Breschnew, so wird entschieden aufzurufen, an Karl Marx zu denken. Der könne leicht in ein wissenschaftliches Institut abgeschoben werden. Aus China wird berichtet, dass die Partei für Mao aufrufe, in den USA gäbe es zwei Strömungen, eine für Martin Luther King, eine andere für Lincoln.

Am festgelegten Tag öffnet sich wirklich die Kabine und der populäre Schauspieler und Musiker Wladimir Wyssozki tritt aus der Kabine, um sofort in die Luft gesprengt zu werden. KGB-Chef Andropow hat ganze Arbeit geleistet: Niemand sollte wiederauferstehen. Egal, wer es sei. In den USA tritt Marilyn Monroe aus der Kabine, in China Konfuzius.

Kernstück dieser Erzählung ist definitiv die Politbüro-Sitzung mit den Gerontokraten (alle außer Andropow über 70). Breschnew, in seinem letzten Lebensjahr, ist schon leicht dement, und Bulytschow konstatiert mit sehr feiner Klinge über die Mittagspause:
Es wurde eine Unterbrechung zur Einnahme des Mittagessens und zur Durchführung medizinischer Maßnahmen beschlossen.
Breschnew selbst denkt zur gegebenen Stunde entgegen dem Politbüro-Beschluss an seine "Mutti".

Sehr cooler Text!