Tavares

Dieser Roman des 1970 in Angola geborenen portugiesischen Schriftstellers Goncalo M. Tavares wurde 2003 in Portugal veröffentlicht und 2012 in deutscher Übersetzung herausgegeben.

Der Text konzentriert sich auf wenige Figuren und ausgehend von einem 29. Mai wird in die Vergangenheit zurückgegangen. An diesem Tag verlässt die nicht ganz vierzigjährige Mylia wegen Bauchschmerzen um vier Uhr morgens ihre Wohnung, die in einem eher schlechten Wohnviertel einer nicht benannten Stadt liegt, und sucht eine Kirche.

Mylia ist schizophren, und ihr zehn Jahre älterer Therapeut Theodor Busbeck heiratet sie, als sie 18 Jahre ist. Die Ehe ist kinderlos und nach mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen steckt ihr Mann sie in eine luxuriöse psychiatrische Privatklinik, wo sie mit einem Insassen, Ernst Stadler, ein Kind zeugt, das behindert zur Welt kommt. Klaas, so sein Name, stottert und ist in seiner Motorik eingeschränkt. Ihr Mann lässt sich von ihr scheiden, der Anstaltsleiter, Doktor Gomperz, unterzieht sie ohne ihre Zustimmung einer Sterilisation. Diese Operation misslingt, und Mylia ist nun dem Tod geweiht.

An diesem Morgen des 29. Mai ist auch ihr Sohn Klaas in diesem Viertel auf der Straße unterwegs und fällt einem ortsbekannten, von einem Kriegstrauma gebeutelten Mann, Hinnerk Obst, zum Opfer, der ihn ermordet. Mylia, die in ihrer Not Ernst Stadler angerufen hat, Hinnerk und Ernst treffen zufällig aufeinander, Hinnerk zeigt seine Pistole, Ernst nimmt sie, erschießt Hinnerk und läuft davon. Mylia nimmt die Tat auf sich und der Text endet mit Mylia im Gefängnis, wo sie - durch ein Wunder geheilt - ihre Strafe absitzt.

Tavares weiß in diesem Text zu vermitteln, dass die Grenzen zwischen normal und Wahnsinn fließend sind, alle sind Versehrte irgendwelcher Traumata. Seien sie körperlich begründet oder durch das Leben geprägt. Zustände in psychiatrischen Anstalten werden gezeichnet, als ob alte, düstere Zeiten nicht vorbei seien. Die Insassen sind willenlose Opfer medizinischen Größenwahns. Selbst der zunächst empathisch gezeichnete Theodor Busbeck ist eiskalt in seinen Entscheidungen gegenüber Mylia, auch wenn er ihren Sohn anerkennt und bis zu dessen Ermordung als 12-Jähriger aufzieht.

In seiner Freizeit schreibt Busbeck ein fünfbändiges Werk über Gräuel der Weltgeschichte mit dem Ziel herauszufinden, ob die Zahl der Gräueltaten in der Weltgeschichte abnimmt, zunimmt oder gleichbleibt. Fachkollegen halten das Werk nach seiner Veröffentlichung für das eines Verrückten. Hängen bleibt, dass Täter wie Opfer Versehrte sind, wie auch die Protagonisten in diesem Werk.
Ein aus Buchenwald entlassener Jude entdeckte unter den SS-Leuten, die ihm seine Entlassungspapiere aushändigten, einen ehemaligen Schulkameraden, den er nicht ansprach, wohl aber ansah. Darauf sagte der so
Betrachtete sehr spontan: »Du musst verstehen, ich habe fünf Jahre Erwerbslosigkeit hinter mir: mit mir können sie alles machen.«

War jemand erst einmal in den Todesfabriken angelangt, dann wurde alles zu einem Zufall, über welchen weder die Gepeinigten noch die Peiniger irgendeine Kontrolle hatten. Und in mehr als einem Fall waren diejenigen, die an einem Tag noch zu den Peinigern zählten, am nächsten Tag schon unter den Gepeinigten.
Keine leichte Lektüre.