fraulein-else

Diese 1924 veröffentlichte Monolognovelle ist eines der ganz großen Meisterwerke Schnitzlers. Sie wird ausschließlich aus dem Kopf Elses erzählt, die Dialoge sind aus ihrer Sicht dargestellt.

Else ist eine rotblonde sportliche Wiener Rechtsanwaltstochter mit 19 Jahren, die im Spätsommer zu ihrer Tante auf einen Urlaub ins mondäne Trentiner Bergdorf San Martino di Castrozza am Fuße des Cimone della Pala geschickt wird. Die Katastrophe bricht ein, als in einem Brief ihre Mutter berichtet, dass der Vater innerhalb weniger Tage 30.000 Gulden (das sind nach dem historishen Währungsrechner der Österreichischen Nationalbank heutzutage etwa 460.000 Euro) benötige, da er treuhändisch verwaltete Mündelgelder beim Spiel und an der Börse verzockt habe. Else solle sich an den im Hotel anwesenden Kunsthändler Dorsday wenden und ihn anschnorren, was sie auch tut. Er stellt eine Bedingung: Er möchte sie am Abend nackt sehen. Else ist am Boden zerstört vom Egoismus ihrer Eltern.
Er hat sich doch denken können, daß der Herr Dorsday nicht für nichts und wieder nichts. Sonst hätte er doch telegraphieren oder selber herreisen können. Aber so war es bequemer und sicherer, nicht wahr, Papa? Wenn man eine so hübsche Tochter hat, wozu braucht man ins Zuchthaus zu spazieren? Und die Mama, dumm wie sie ist,
setzt sich hin und schreibt den Brief.
Während Else in einem Gedankensturm hin und her überlegt, trifft ein Telegramm ihrer Mutter ein: Der Betrag muss auf 50.000 Gulden (770.000 Euro) erhöht werden. Rasend zwischen Todeswünschen an den Vater ("Wenn der Papa tot ist, dann ist ja alles in Ordnung, dann muß ich nicht mehr mit Herrn von Dorsday auf die Wiese gehn"), Selbstmordabsichten und der Absicht, sich nackt zu zeigen, geht Else am Abend sichtlich geistig verwirrt nur mehr im Mantel ins Musikzimmer des Hotels, in dem sich Dorsday aufhält, lässt ihren Mantel fallen und kollabiert. Von Tante und Cousin ins Zimmer gebracht, scheint sie es zu schaffen, eine Überdosis Veronal einzunehmen, ihre Gedanken brechen.
Sie rufen von so weit! Was wollt Ihr denn? Nicht wecken. Ich schlafe ja so gut. Morgen früh. Ich träume und fliege. Ich fliege ... fliege ... fliege ... schlafe und träume ... und fliege ... nicht wecken ... morgen früh ...
»El ...«
Ich fliege ... ich träume ... ich schlafe ... ich trau ... trau – ich flie ......
Die Zeit der Handlung lässt sich schwer bestimmen. Der Gulden wurde 1900 in Österreich aus dem Verkehr genommen, Veronal kam 1904 auf den Markt, San Martino di Castrozza wurde im Ersten Weltkrieg zerstört. Aber wahrscheinlich kam es Schnitzler auf eine historisch korrekte Kontinuität gar nicht an. Im Zentrum steht eine Rechtsanwaltstochter, die von ihren Eltern aufs Schamloseste instrumentalisiert wird und die daran zerbricht.

In den Gedanken Elses wird immer wieder reflektiert, dass ihr Vater rücksichtslos handelt und ihre Mutter sie in eine reiche Ehe verschachern will, ein prostituiertes Leben, in dem sie ihre eigenen Wünsche nicht verwirklichen kann oder darf.
sie haben mich ja doch nur daraufhin erzogen, daß ich mich verkaufe, so oder so. Vom Theaterspielen
haben sie nichts wissen wollen. Da haben sie mich ausgelacht. Und es wäre ihnen ganz recht gewesen im vorigen Jahr, wenn ich den Direktor Wilomitzer geheiratet hätte, der bald fünfzig ist. Nur daß sie mir nicht zugeredet haben. Da hat sich der Papa doch geniert. Aber die Mama hat ganz deutliche Anspielungen gemacht.
Sie träumt von schönen Jünglingen, Häusern an Seen oder am Meer, von Selbstbestimmung, Reisen und Klettern, aber auch davon, dass sie gerne eine sinnvolle Ausbildung bekommen hätte, mit der sie ein eigenständiges berufliches Leben beginnen könnte, auch wenn sie daran zweifelt, dass einer Frau dies überhaupt ermöglicht sein kann.
Warum habe ich nichts gelernt? O, ich habe was gelernt! Wer darf sagen, daß ich nichts gelernt habe? Ich spiele Klavier, ich kann französisch, englisch, auch ein bißl italienisch, habe kunstgeschichtliche Vorlesungen besucht - Haha! Und wenn ich schon was Gescheiteres gelernt hätte, was hülfe es mir? Dreißigtausend Gulden hätte ich mir keineswegs erspart.
Schnitzlers Ansatz ist durchaus psychoanalytisch: Das Ich Elses wird zerrieben zwischen dem schamlosen Über-Ich der Eltern - der Vater ist noch weiter weg als die Mutter, er kommuniziert nich mal - und dem triebhaften ES, das Else dazu treibt, dem Wunsch des Über-Ich zu entsprechen. Übrig bleibt: der Tod.

Was für eine Anklage an schamlos dominante Eltern, die ihre Kinder zu ihrem eigenen Wohl ausnutzen wollen, und an eine Gesellschaft, in der junge Frauen keinerlei Möglichkeiten zu einem selbsterfüllten Leben geboten werden, sondern zur erniedrigenden Selbstaufgabe gezwungen werden.

Quelle der Textstellen: "Fräulein Else" auf zeno.org