Rote Zukunft

2010 (in deutscher Übersetzung 2012) legte der britische Lehrende für kreative Literatur Francis Spufford ein furioses Panoptikum der Sowjetunion unter Nikita Chrustschow vor. Spufford nennt es eine "Märchenversion der Geschichte der mathematischen Ökonomie", eigentlich zählt es zum Genre Dokudrama, aber in erzählerischer Form, und in dieser Form zeigt er, was dieses filmisch eher matte Genre zu leisten imstande ist.

Gerahmt ist der Text mit der Innensicht Chrustschows. Er beginnt mit seinen Träumen auf dem Flug in die USA, dass die Wirtschaftsdaten zeigten, die Sowjetunion sei in der Lage, innerhalb von 20 Jahren wirtschaftlich die USA zu überholen. Er endet mit dem abgesetzten Chrustschow, der auf einer Bank seiner Datscha sitzt und auf ein Weizenfeld blickt.

Im Zentrum stehen junge Menschen, die davon träumen, Teil der Verwirklichung von Chrustschows Visionen sein zu können, wobei man immer wieder mit den strukturellen Unzulänglichkeiten bzw. Verbrechen der Sowjetunion konfrontiert wird. So mit der Ausbeutung der Landbevölkerung, die an Gütern viel weniger erhalten, als ihre Produkte Wert sind. Die Läden sind leer. Sie sind "am Ende der Warteschlange". Die Rohstoffe für die Industrie wurden während der Stalinzeit "für Hirsebrei" aus den Lagern des GULAG billigst geliefert.

Wir lernen die Lebenswelt der Arbeiter kennen, die zusammengschossen werden, wenn sie gegen Preiserhöhungen und Lohnkürzungen demonstrieren. Wir lernen die Halbwelt der Schieber kennen, die notwendig sind, damit dringend benötigte Lieferungen überhaupt die Fabriken erreichen, die aber auch mal von der Polizei folgenlos zusammengeschlagen werden können. Wir lernen die Welt der Betriebesleiter kennen, die alles tun, um den Plan zu erfüllen, weil damit ihre Prämien verbunden sind und ihre Karriere dranhängt. Wir lernen eine Betriebsleitung kennen, die eine riesige Viskosespinnmaschine durch einen Unfall unbrauchbar macht, weil diese Maschine nicht in der Lage ist, den Plan erfüllen zu können, und sie eine modernere Version haben will. Und wir lernen, dass die Schuldscheine der Kriegsanleihen nach Ende des Zweiten Weltkriegs verbrannt wurden. Der Staat erstattete den Bürgern, die den Krieg mitfinanziert haben, ihr Geld nicht zurück.

Der Kern sind aber die Computerwissenschafter im sibirischen Akademgorodok bei Nowosibirsk, einem Wissenschaftsstädtchen, die sich zum Ziel gesetzt haben, dass mit Hilfe von Supercomputern die Wirtschaftspläne so optimiert werden, damit der Traum vom permanenten Wachstum Wirklichkeit wird. Wir lernen eine für die Sowjetunion relativ offene Gesellschaft kennen, die auch in US-Fachzeitschriften publiziert wird, und wir lernen ihren Kampf um das Programm nach Absetzung Chrustschows kennen und ihre Niederlage, als beschlossen wurde, den Supercomputer BESM nicht weiterzuentwickeln und den Plan weiterhin von Menschen erstellen zu lassen. Die Reformen Kossygins 1965 wischten den Traum des permanenten Wachstums durch Computersteuerung der Nationalökonmie vom Tisch. Und der Selbstverwaltung der Wissenschafter in Akademgorodok wurde ein Ende gesetzt, ihnen wurde das Bezirkskomitee der Partei vor die Nase gesetzt.

Dabei war es wohl mehr eine Fata Morgana denn ein Traum. Das Wachstum der Sowjetunion war zu 65 Prozent ein extensives, und irgendwann hat die Steigerung von außen ihr Ende. Ohne intensives Wachstum geht es nicht. Aber wie soll dies geschehen, wenn untragbare Hemden produziert werden, um den Plan zu erfüllen, anstatt zum Beispiel die Baumwolle am Weltmarkt zu verkaufen. Auch entsprach die Steigerung des Outputs nie den Steigerungen der Investitionen. Bei den Verbrauchern kam noch weniger an. Geld wurde "aus dem Volk gesaugt" und "durch den Vorgang selbst verschlungen". Das Wachstum bei Verbrauchsgütern lag bei unter einem Prozent, während das der Investitionen bei etwa 10 Prozent lag (Zahlen aus den 50er und 60er Jahren). Aber Breschnew hatte Glück, in den 1960er Jahren wurde in Sibirien Öl gefunden, und in den 1970er Jahren wurde damit ein kleiner Wohlstand finanziert. Bei Ernteausfällen wurde Weizen aus dem Ausland eingekauft, und es gab sogar Farbfernseher zu kaufen. Aber es war kein produzierter Wohlstand, sondern es war Rohstoffglück. Die Schwerindustrie und Halbfertigindustrie war zum Selbstzweck geworden. Es gab keine Verbrauchsgüterindustrie, keine Wohlstandsindustrie, von der Chrustschow noch geträumt hat.

Dem Text ist ein umfassender Anmerkungsapparat mit den wissenschaftlichen Quellen bzw. den in den USA durch sowjetische Wissenschafter veröffentlichten Texten.

Wer immer sich für diese Zeit interessiert, dies ist definitiv ein Buch, zu dem gegriffen werden kann.