Franziska

Der jüdisch-österreichische Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß, gebürtig in Brünn, veröffentlicht 1916 einen Roman einer Musikerin, die aufgerieben wird zwischen Kunst, Selbständigkeit und Liebe.

Franziskas Mutter stirbt 1911 und hinterlässt in einem Dorf im Riesengebirge (heute Grenzland zwischen Tschechien und Polen) drei Töchter. Die ältere Tochter wird Lehrerin, die zweite geht als Dienstmädchen nach Prag, die siebzehnjährige Franziska lässt sich ihr Erbe (160 Kronen, heute wären das etwa 1000 Euro) ausbezahlen und fährt nach Prag, um einer bekannten Sängerin am Klavier vorspielen zu können, nachdem ihre Einkünfte als Klavierlehrerin im Dorf wegbrechen, als der Lebensmittelhändler seine Tochter nicht mehr von ihr unterrichten lässt.

Franziska ist eine akribische Klavierspielerin, die Noten in der Nacht abschreibt, um sie in ihrem Gedächtnis einbrennen zu können. Andererseits ist ihr Spiel sehr von ihrer Gefühlslage abhängig. Sie kann schlecht spielen, aber sie kann konkurrenzlos gut sein. Ihre zweite Probe gelingt so gut, dass sie einen Vertrag mit einem Konzertagenten abschließen kann. Ihr erstes Konzert in Prag war ein Riesenerfolg, ihr zweites in Berlin (nach einer misslungenen Probe) wird von ihrer Förderin Leonore Constanza kommentiert, dass sie Gott nicht weiter herausfordern solle.

Die zweite Ebene des Romans ist die Beziehung Franziskas (einer Schulwarttochter, was im Dorf als "bürgerliche Familie" zählt) zu dem auch aus dem Dorf stammenden arbeitslosen, ebenso elternlosen Techniker Erwin, der in Berlin bei einer Telegraphenfirma gearbeitet hat und von einem Südamerikaauftrag mit Malaria zurückgekommen ist und den Job verloren hat. Nun versucht er sich durch Selbststudium als Erfinder im Radiobereich durchzusetzen.

Erwin ist hin und her gerissen zwischen seiner Berliner Liebe Hedy, einer Stenotypistin, und der intelligenten, schönen, aber spröden Franziska. Immer wieder verlässt er beide, um zur anderen zu fahren, und Hedy droht mit Selbstmord. Beim Berliner Konzert Franziskas wohnt Hedy im selben Hotel, in das Franziska und Erwin ziehen. Hedys 50-jähriger Sugardaddy, ein reicher polnischer Kaufmann, steckt sie vermutlich mit Syphillis an, und am Ende stirbt sie in den Armen Franziskas, während Erwin versucht, Hilfe zu holen. Ob Hedy an Syphillis stirbt oder an Gift, bleibt offen, wie auch das weitere Schicksal Franziskas und Erwins.

Weiß thematisiert in diesem Roman die Abhängigkeit junger Frauen von Männern. Während Hedy anhänglich ist, was Erwin eigentlich von einer Frau wünscht, ist Franziska eigenständig und wünscht unabhängig zu sein. Dies wird bereits zu Beginn des Romans klargestellt:
Ich will in meinem Leben keinen Zwang, aber auch keine romantischen Ideen. Ich brauche niemand. Ich will, daß man mich in Frieden läßt. ... Ich will mit niemand gehen, allein sein, allein bleiben für alle Zeit.
Dennoch ist sie überwältigt von ihrer Liebe zu Erwin:
Sie mußte ihm alles geben, ob er es wollte oder nicht. Liebe, Zeit, Geld, ihre Kunst, Körper, Seele und Zukunft. ... Mit dem ungebrochenen Fanatismus ihrer Jugend wollte sie sich ihn erobern und dann die ganze Welt: sie mußte Egoistin sein, tausendmal mehr Egoistin als bis jetzt. Aber nicht mehr für sich allein, nicht mehr nur für dieses ewig hungrige, ewig unersättliche, erbittert gierige »Ich«, sondern für Erwin und sich zugleich, für sich und für den Menschen, an dem sie mit allen Fasern ihrer starken Seele hing.
Es ist die Krankheit Erwins, die sie anzieht. Krankheit, ein Thema, das den Roman durchzieht. Franziska pflegt Erwin aufopferungsvoll, als er von einer Berlinfahrt zu Hedy mit 40 Grad Fieber zu Franziska zurückkommt.
Erwin mit seiner Kränklichkeit, mit seinem grauen Gesicht, mit seinen matten, aber immer noch schönen Mädchenaugen wühlte Ekel, Sehnsucht, Grauen in ihr auf.
Das Hin und Her sowie die Frage, ob in dieser Dreierbeziehung überhaupt Liebe im Spiel ist (immer wieder äußern die drei, dass sie sich eigentlich nicht lieben würden), stellt Weiß in den Kontext einer verdinglichten Welt, in der Menschen technischen Geräten wie einem Fetisch ihre Liebe zuwenden würden und daher nicht mehr einer zwischenmenschlichen Liebe fähig seien:
Aber es gibt heutzutage gar keine Liebe mehr. Es gibt ja dafür tausend andere Sachen, die man früher nicht gekannt hat. Automobile, Marconitelegraphie (darin ist dein Erwin Meister), Aeroplane, Grammophone, aber Liebe? Vielleicht gibt es noch Menschen, die sich das einbilden ...
Aber auch der Wunsch nach männlicher Dominanz wird durch Erwin personalisiert. So, als er in Berlin Hedy krank sieht:
Gesunken, krank, hilflos, elend, so wie sie jetzt war, so liebte er sie. ... Klebrig, ekelhaft war alles, alles griff nach ihr und ließ sie nie mehr ganz los, allzu nahe drängte sich Kummer, Lust und Elend an sie heran.
Erwin fragt sich, warum er denn eigentlich Franziska nicht liebe, sie sei doch "schön und jung und gut". Mit ihr müsse er doch glücklich werden. Aber er gibt sich die Antwort selbst:
Wäre die Constanza nie nach Prag gekommen, dachte Erwin, dann wäre Franziska das geblieben, was ich bin, wir hätten uns vertragen als zwei gleiche Menschen mit einem mäßigen Einkommen, einer mäßigen Liebe, mit mäßigen Wünschen. Wo sind wir jetzt? Sie ist am Anfang, ich bin am Ende.
Es ist ihr beginnender Erfolg als Pianistin, seine drohende Abhängigkeit, da er selbst sich in einer beruflichen Sackgasse sieht.

Aber: Weiß lässt das Ende offen, und wer 1916 zu dem Roman griff, wusste genau, dass danach der große Krieg folgte und alles ganz anders wurde. Aber wie?

Ernst Weiß war übrigens ein Freund von Franz Kafka und gemeinsam haben sie diesen Roman in Dänemark lektoriert.

Das Dorf, aus dem Franziska stammt und aus dem sie entkommen will, bleibt zwar ungenannt, aber vom Nachbardorf Johannisbad findet sich auf Wikimedia eine Photochrom-Aufnahme aus dem Jahr 1900:

Johannisbad 1900Original anzeigen (4,2 MB)