Levi-periodisch

Dieser Erzählband des italienischen Chemikers jüdischer Herkunft Primo Levi enthält 21, meist autobiographische Erzählungen, die nach chemischen Elementen benannt sind. Im Fokus liegt dabei sein Lebensweg als Chemiker. 2006 wählte die Royal Institution of Great Britain dieses Werk zum besten Wissenschaftsbuch aller Zeiten.

Levi ist 1919 in Turin geboren und erzählt in der ersten Geschichte (Argon) über die Herkunft der piemontesischen Juden aus Spanien, von wo sie Ende des 15. Jahrhunderts fliehen mussten, und über zum Teil sehr skurrile Ahnen. Das Chemiestudium beendete er mit Auszeichnung, obwohl Juden bereits verboten war, einen Bildungsgrad zu erlangen. Die Turiner Universität stempelte "Jude" auf das Zertifikat. Während des Studiums freundet er sich mit einem wilden Bergsteiger namens Sandro an, unternahm Touren und sie schlossen sich einer antifaschistischen Widerstandsgruppe an. Sandro wurde auf offener Straße erschossen.

Dieses Bild zeigt Levi 1941 bei einer seiner Radtouren:

levi-bike-1941Original anzeigen (0,2 MB)
Bild: Bianca Guidetti Serra, coll. Ian Thomson, online auf journals.openedition.org

Diese beiden Bilder zeigen Sandro Delmastro am Berg:

Sandro-Delmastro-Monte-Thabor
Bild: borborigmi.org

Sandro-Delmastro-Ago-delle-Sengie-Gran-p
Bild: borborigmi.org

Über Sandro schreibt Levi:
Sandro - das war Sandro Delmastro, der erste, der vom Piemontesischen Militärkommando der Aktionspartei fiel. Nach einigen äußerst spannungsgeladenen Monaten wurde er im April 1944 von den Faschisten gefangengenommen, er gab aber nicht auf und versuchte, aus dem Liktorenhaus von Cunco zu fliehen. Eine Maschinengewehrsalve traf ihn ins Genick, abgefeuert von einem scheußlichen kindlichen Henker, einem jener unglücklichen fünfzehnjährigen Schergen, die die Republik von Salô in den Besserungsanstalten gedungen hatte. Lange blieb sein Leichnam mitten auf der Straße liegen, da die Faschisten den Einwohnern verboten hatten, ihn zu beerdigen.
Als exzellenter Destillierer und Analytiker wird er 1941 - auch entgegen der italienischen "Judengesetze" - in der Asbestmine Balangero (Wikipedia) bei Turin angeheuert, wo er aus dem Abraum Nickel herausholen soll, da der Weltmarktpreis sehr hoch ist. Die Arbeitsbedingungen in dieser Mine sind mehr oder weniger höllisch. 1942 wird Levi von einem Schweizer Pharmakonzern abgeworben, in dessen Mailänder Dependence er an der Entwicklung eines oralen Diabetesmittel auf Pflanzen- bzw. Mineralbasis arbeiten soll.

Die Besetzung Norditaliens durch die deutsche Wehrmacht und die Bildung des Marionettenstaats Italienische Sozialrepublik (Republik von Salo) änderte alles. 1944 wurde Levi nach Auschwitz deportiert, überlebte als Chemiker die Selektion und wurde im Buna-Werk von Auschwitz-Monowitz eingesetzt. Im Kapitel Cer beschreibt er, wie er dieses Mineral aus dem Werk geschmuggelt und gegen Brotrationen weiterverkauft hat. Ihm dürften diese zusätzlichen Brotrationen das Leben gerettet haben. Ebenso wie Scharlach: Aufgrund dieser Krankheit wurde er nicht auf die Todesmärsche in Richtung Alpenraum geschickt und konnte bis zur Befreiung überleben. Sein Kumpane hatte nicht dasselbe Glück, er starb auf einem der Märsche.

Im vorletzten Kapitel Vanadium kommt Levi wieder auf die Zeit in Auschwitz-Monowitz zurück. In einem Streit mit einer deutschen Chemiefirma, die Grundstoffe zur Lackproduktion liefert, wegen fehlerhafter Chargen findet er heraus, dass der mit ihm korrespondierende Lothar Müller sein Aufseher in Auschwitz-Monowitz war, der ihm auch manche Gefälligkeiten zukommen ließ (zum Beispiel Lederschuhe). Er schreibt ihn privat an, ist aber über Formulierungen entsetzt, mit denen sich Müller reinwaschen will. Vor einem möglichen Treffen in Italien verstirbt Müller.

Ziemlich verbittert schreibt Levi:
In seinem ersten Brief hatte er von »Bewältigung der Vergangenheit« gesprochen: ich erfuhr später, daß dies eine stereotype Redewendung im heutigen Deutschland ist, ein Euphemismus, der gemeinhin als »Freisprechung vom Faschismus« begriffen wird; aber die in dem Ausdruck enthaltene Wurzel »walt« erscheint auch in anderen Worten, wie Gewaltherrschaft, Gewaltanwendung. Vergewaltigung, und ich glaube, würde man den Begriff mit
»Verdrehung der Vergangenheit« oder »Vergewaltigung der Vergangenheit« umschreiben, ginge man nicht weit an seiner tieferen Bedeutung vorbei.
[...]
Ich gab zu, daß nicht jeder als Held geboren wird und daß eine Welt, in der alle so wie er wären, das heißt ehrlich und wehrlos, durchaus erträglich, jedoch eine irreale Welt wäre. In der wirklichen Welt gibt es Wehrhafte, sie bauen Auschwitz, und die Ehrlichen und Wehrlosen ebnen ihnen den Weg; deshalb muß sich jeder Deutsche, ja jeder Mensch für Auschwitz verantworten, und nach Auschwitz ist Wehrlosigkeit nicht mehr zulässig.
Mit diesem Kapitel sind wir bei der Frage von Dichtung und Wahrheit. Lothar Müller ist ein Pseudonym für Ferdinand Meyer, dem Chefchemiker von IG Farben in Auschwitz-Monowitz. Mit ihm stand Levi wirklich im Briefwechsel (siehe Enzo Traverso in einem Artikel des Wiener Wiesenthal-Instituts). Eingefädelt hatte diesen Kontakt eine interessante Korrespondenzfreundschaft mit der Chemikerin Hety Schmitt-Maaß (Info auf der Seite des Stadtteilmuseums WI-Klarenthal), deren geschiedener Ehemann bei IG Farben als Chemiker arbeitete. Einen interessanten Artikel schrieb der Levi-Biograph Ian Thomson 2007 im britischen Guardian.

Zurück zur Chronologie. Die Nachkriegsjahre waren schwierig für Levi. Zunächst arbeitete er in einer Turiner Lackfabrik, ein Versuch als Selbständiger scheiterte, nach dem Wiedereinstieg in die Fabrikswelt arbeitet er sich bis zum Technischen Direktor hoch. Die einzelnen Kapitel sind nie jammernd geschrieben (die Zustände sind oft himmelschreiend), sondern auf ihre trockene Art und Weise zum Teil hochamüsant und geben einen tiefen Einblick in die Wirtschaftswelt Italiens und Europas der Nachkriegszeit.

Abgeschlossen wird der Erzählband mit dem Kapitel Kohlenstoff. In ihm preist er dieses Element als das Grundlegende für das Leben auf Erden. Den Kohlenstoffzyklus beschreibt er anhand eines Atoms: 1840 aus einem Kalkstein freigesetzt, durchläuft es mehrfach den Prozess der Photosynthese, bis es zuletzt während des Schreibprozesses im Gehirn von Primo Levi landet.

Anfang der 70er Jahre war zwar die Gefahr der Verbrennung fossilen Kohlenstoffs noch nicht so in Diskussion wie heute, aber dennoch ist eine Passage nachdenkenswert. Wenn der Mensch es der Natur gleichtäte und Kohlenstoff aus der Luft gewänne, wäre er gottgleich. Alle Probleme des Hungers wären gelöst. Warum gibt es keine Bestrebungen in diese Richtung, obwohl zumindest in Theorie die technisches Voraussetzungen gegeben wären? Levi begründet es mit Bequemlichkeit.
Der Mensch hat, bewußt oder unbewußt, bisher noch nicht versucht, auf diesem Gebiet mit der Natur zu wetteifern, das heißt, er hat sich nicht bemüht, dem Kohlendioxyd der Luft den Kohlenstoff zu entziehen, den er benötigt, um sich zu nähren, zu kleiden, zu wärmen und zur Befriedigung der hundert anderen raffinierteren Bedürfnisse des modernen Lebens. Er hat es nicht getan, weil er es nicht brauchte: er hat bisher riesige Reserven organisch aufgeschlossenen oder zumindest reduzierten Kohlenstoffs gefunden und findet sie noch (aber wieviel Jahrzehnte wohl noch?).
Zwei Kapitel, die nach der Episode im Turiner Asbestbergwerk angesiedelt sind, sind rein fiktiv und parabelhaft. Das eine nennt sich Blei und handelt von einem germanischen (mittelalterlichen) Bleisucher, der sein Paradies in Sardinien sucht und findet (Parabel auf den deutschen Imperalismus?). Das andere heißt Quecksilber, spielt auf der einsamen Insel Trostlosigkeit im Südatlantik, nachgestaltet der real existierenden Insel Tristan da Cunha (Wikipedia). Auf ihr lebt ein Korporal Abrahams alleine mit seiner Frau, besucht wird er einmal jährlich von einem Walfängerschiff, das eines Tages zwei Holländer auf die Insel bringt, zwei Italiener überleben eine Schiffsunglück und siedeln sich ebenso an. Vier Männer und eine Frau. Nach einem Vulkanausbruch wird in einer Höhle massenhaft Quecksilber entdeckt, damit werden über den Kapitän des Walfängers vier Frauen gekauft, und die Paare werden gemischt. Abrahams nimmt eine neue Frau, die wiederum sich mit einem Holländer liiert, den sie liebt.