Glavinic-Kameramoerder

Diese 2001 erschienene, durchaus verstörende Kriminalnovelle des österreichischen Autors Thomas Glavinic zeichnet sich durch ihre sehr strenge Komposition und emotionslose Sprache aus, deren Sinn sich erst mit dem letzten Satz erschließt. Sie spielt zu den Osterfeiertagen eines unbestimmten Jahres (90er Jahre müssen es sein) auf dem Gelände eines Bauernhofs in der Weststeiermark, wo zwei befreundete Ehepaare im Alter von etwa 30 Jahren das Osterwochenende gemeinsam verbringen. Das eine lebt dort seit einiger Zeit, das andere ist aus Oberösterreich zu Besuch.

Während ihres Aufenthalts geschieht in einem Nachbarort ein spektakulärer Mord. Drei Kinder (Buben im Alter von 7 bis 9) werden von einem Mann als Geisel genommen, zwei werden unter Androhung schrecklicher Folter der ganzen Familie dazu getrieben, von hohen Bäumen in den Tod zu springen. Sie werden dabei gefilmt, dem dritten wird die Flucht ermöglicht. An einer Autobahnraststätte wird das Filmmaterial gefunden und einem deutschen Privatsender übergeben.

Die vier in ihrem Haus verfolgen via Fernsehen die Ereignisse, ein deutscher Privatsender veröffentlicht Szenen aus dem Video, darunter die beiden Sprünge sowie die Leichen der Jungen, vor allem die beiden Männer verfolgen die Ereignisse mit großem Interesse bei Wein und Snacks am Fernsehschirm. Bei einem Ausflug in den Tatort am Ostersonntag wird geschildert, wie diese kleine Siedlung von Fernsehteams belagert ist und unter der Bevölkerung eine Rachestimmung vorherrscht. Ein junger Mann wird verhaftet, aber wieder freigelassen, da er ein stichhaltiges Alibi hat: Er war auf einer mehrtägigen Zechtour. Zurück im Haus verfolgen die vier im Fernsehen, wie ein Polizeiring sich ihrem Haus nähert, Panik steigt vor allem bei den beiden Frauen auf, da der Mörder sich offensichtlich in ihrer Nähe befinden muss. Am Fernsehschirm wird verfolgt, wie ihr Haus umstellt wird, der Ehemann aus Oberösterreich wird wegen zweifachen Mords verhaftet. "Ich leugne nicht." - Der letzte Satz.

Der Text ist ein Gedächtnisprotokoll des Mörders, der bis zum letzten Satz unbekannt bleibt, auch wenn der erste Satz bereits einen Hinweis enthält: "Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben". Eigentümlich fällt nur die distanziert protokollarische Schreibweise auf, welche brutalste Gewalt neben detaillierteste Erinnerungen an das verbrachte Wochenende (inklusive Ergebnisse von Federball- oder Tischtennistischen oder die Anzahl von Wespen am Esstisch) stellt.
Einige Stunden lang streift der Unhold mit seinen Opfern durch Wald und Wiesen, fragt und filmt die weinenden Kinder. Er befiehlt dem 7jährigen, auf den höchsten Baum der Umgebung zu klettern. Dabei darf ihm der geschicktere 8jährige helfen. Durch die Unterstützung des großen Bruders schafft es der Kleine, die Höhe von 10-12 m zu erreichen. Der Größere muß wieder hinabklettern. Nun befiehlt der Mann, immer die Kamera am Auge, dem Kleinen hinunterzuspringen. Meine Lebensgefährtin rief aus, das kann doch nicht wahr sein. Heinrich antwortete, es sei wahr, im Teletext würden die Ereignisse auf 8 Seiten genau geschildert. Meine Lebensgefährtin bat ihn, in seinem Bericht fortzufahren. Heinrich erzählte, der Mann habe gedroht, im Fall einer Sprungverweigerung die ganze Familie auszurotten, angefangen hier mit den beiden Geschwistern. Als sich das Kind lange sträubt, verstärkt der Mann seinen Druck und versichert ihm im Gegenzug, ihm wird nichts geschehen, er verspricht es, er wird ihn auffangen. So ist der Kleine schließlich gesprungen und folgerichtig gestorben. Auch dabei ist gefilmt worden.
Die Sprache eines Psychopathen, wie sich am Ende herausstellt.

Bei Erscheinen des Buchs ist vor allem der Aspekt der Fernsehmedien und des Publikums diskutiert worden, die Glavinic auch aufgreift. Die Fernsehsender befänden sich im "Quotenkampf", dem Publikum wird eine Mitschuld am Sensationalismus gegeben. Die beiden Ehepaare erscheinen bis zum letzten Satz als pseudo-medienkritische Intellektuelle, die sich dem Bann des Geschehens und dem Tätervideo, das auch aufgezeichnet wird, nicht entziehen können. Es ist das Publikum, das Journalisten dazu treibt, in ein Krankenhaus einzudringen und die Mutter zu fotografieren, die mit einem Nervenzusammenbruch eingeliefert worden ist (eine eindeutige Referenz an Bölls Katharina Blum). Es ist das Publikum, das Fernsehsender dazu treibt, das Video zu veröffentlichen.

Die Frage nach dem filmenden Täter ist weniger gestellt worden. Warum filmt er? Warum sorgt er dafür, dass das Filmmaterial gefunden wird? Kann er davon ausgehen, dass eine Kopie in die Medien gelangt und gezeigt wird? Die Antwort auf die letzte Frage kann nicht aus dem Text erschlossen werden.

Nur: Glavinic schrieb seinen Text vor den Internetplattformen, die beschriebene Welt ist eine ohne Internet, ohne Handys (nur mit Festnetztelefon), aber mit Privatfernsehsendern. Dennoch weist er in eine nicht weit entfernte Zukunft, in der Täter ihre Botschaften und Filme selbst veröffentlichen können: Breiviks Manifest, Köpfungsvideos des IS, Brenton Tarrant in Christchurch.

Wie diesen ist es dem Täter hier anscheinend egal, dass er gefasst wird. Schlüssel ist sein Auto, das er verwendet hat und vom geflohenen Kind beschrieben werden konnte. Nicht eindeutig geht hervor, ob die verzerrte Stimme des Täters auf dem Video von ihm selbst verzerrt wurde (dann stellt sich die Frage: wann und wie?) oder vom Sender.

Trotz mancher kompositorischer Unklarheiten (die Tat wird durchgeführt, als seine Frau einen Alkoholrausch in einem Hotel bei Graz ausschläft, nur: Wie wird geplant? Wie kommt er an die Kinder? Wie wählt er einen Ort ohne weitere Menschen?) ist die Stärke der Novelle: Es ist das Psychogramm eines wohl wahnsinnigen Täters, der über seine Tat schreibt, als ob er sie als Unbeteiligter im Fernsehen beobachten würde. Und über weite Strecken gelingt es Glavinic, eine Spannung aufzubauen, die eines Stephen King würdig ist.