Gemeindekind

Dieser 1887 erschienene und vermutlich bekannteste Roman der österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach spielt in dem fiktiven Dorf Soleschau im Südosten Mährens (damals Teil der österreichischen Reichshälfte der Donaumonarchie) in den Jahren von 1860 bis 1870. Hauptcharakter ist ein gewisser Pavel Holub. Seine Eltern werden des Raubmords an einem Pfarrer in Kunovic (den Ort gibt es) verurteilt. Der trunksüchtige Vater wird hingerichtet, die Mutter zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt.

Der dreizehnjährige Pavel und seine zehnjährige Schwester Milada, die bereits in ihrer Familie in einer Ziegelfabrik arbeiten mussten, werden von der Gemeinde Soleschau aufgenommen. Niemand will jedoch die verwahrlosten Kinder von Raubmördern. Die dominierende alte Gräfin schafft es, dass Milada in das Kloster aufgenommen wird, wo sie sich sehr zur Freude der Klosterfrauen entwickelt, nach zehn Jahren jedoch an Entkräftung stirbt. Pavel wird der Hirtenfamilie von Virgil (Alkoholiker wie sein Vater) und dessen Frau Virgilova (Kurpfuscherin) zwangszugewiesen. Und wieder wird Pavel zur Arbeit in die Ziegelei geschickt, das Geld wird ihm abgenommen. Eine Hassliebe entsteht zur schönen, aber boshaften Tochter Vinska. Aufgrund der miserablen Lage und unter Aufhussung von Vinska beginnt er zu stehlen, und als er dem sterbenskranken Bürgermeister einen Kamillenextrakt von Virgilova bringt und er stirbt, wird er des Mordes angeklagt, aber freigesprochen.

Danach versucht Pavel, diesem Elend zu entrinnen. Nachdem ihn das Kloster als Knecht nicht genommen hat, nimmt ihn der Dorflehrer Habrecht als Hausgehilfe auf. Diesem haftet der Ruf an, ein Hexenmeister zu sein. In seiner Jugend ist er nach einem Zusammenbruch scheintot bereits im Sarg gelegen, als er wiedererwacht ist. Habrecht schreibt es einer unnatürlichen, von falschem Ehrgeiz getriebenen Doppelbelastung zu, am Tag war er Lehrer, in der Nacht studierte er für einen Universitätsabschluss und eine Universitätskarriere.

Pavel spart jeden Gulden, den er verdient, da er beim Lehrer Kost und Logis erhält, und kauft schließlich überteuert ein kleines Grundstück in einer ehemaligen Sandgrube am Rand des Dorfes, wo er sich ein Lehmziegelhaus baut. Richtig integriert wird er nicht, aber einen gewissen Respekt kann er im Dorf aufbauen, auch wenn es immer wieder zu Streitigkeiten kommt, da Pavel durchaus stur und jähzornig sein kann. Aber er rettet auch dem Sohn des verstorbenen Bürgermeisters, der Vinska geheiratet hat, bei einem Unfall das Leben und überlässt einem Freund die hübsche Slava, die er selbst auch liebt. Von der Baronin erhält er nach dem Tod seiner Schwester ein kleines, nicht sehr fruchtbares Feld, auf dem er Korn anbaut und Kirschbäume pflanzt. Der Roman endet mit der Rückkehr seiner Mutter, die er in sein Haus aufnimmt, auch wenn ihn keine Liebe mit ihr verbindet. Eine mögliche Beziehung mit der verwitweten Vinska (ihr Mann ist an den Langzeitfolgen des Unfalls verstorben) kommt nicht zustande.

Eine Idylle ist diese Dorfgemeinschaft nicht. Ganz im Gegenteil. Ihre Bewohner zeichnen sich durch Egoismus, Schadenfreude und Boshaftigkeit aus. Aus dem Elend kann sich nur durch strebsamen, sturen Fleiß herausgearbeitet werden, aber trotzdem braucht es solidarische Helfer, damit dies gelingt. Für Pavel sind diese der Lehrer und zum Teil die Baronin, die ein wenig der hartherzigen Gemeinde mit ihren Räten entgegenwirkt und nach ihrem Tod über den Eingang ihres Mausoleums einen Erdhaufen geschüttet haben möchte, um von der Außenwelt abgeriegelt zu sein. Der Lehrer selbst geht weg, um dem Hexervorurteil zu entgehen, doch in der neuen Gemeinde ist er wegen seines deutschen Namens ein noch größerer Außenseiter. Der tschechische Nationalismus wird als Narrheit gebrandmarkt, "tierischer Patriotismus mit blindem Zug zum Einheimischen" bedeute "blinden Haß gegen das Fremde". Am Ende ist Habrecht Anhänger einer ethischen Bewegung, die Moral zur Religion erhebt. Diese ist ihm von einem in den USA lebenden Freund zugetragen worden. Habrecht steigt in den Zug nach Wien und hat eine Ausreise in die USA zum Ziel.

Auch wenn Moralverfall, Egoismus, Boshaftigkeit als durch die Armut und Lebenssituation bedingt gesehen werden, geht Ebner-Eschenbach einen anderen Weg als die Naturalisten wie Hauptmann. Weder das Milieu noch die Abstammung führen Pavel in ein unausweichliches Scheitern. Aus eigener Kraft und mit Hilfe von sozial mitfühlenden Menschen sowie Freunden, die er sich durch seinen Fleiß erworben hat, ist er am Ende mit seinen etwa 23 Jahren legaler und schuldenfreier Besitzer eines kleinen Grundstücks mit Haus und eines kleinen Felds, kann sich selbst erhalten und durch Tagelohnarbeiten (er ist wegen seiner Stärke und seines Fleißes sehr gefragt) ein Zubrot verdienen. Der Leserschaft bleibt überlassen, wie sie sich das zukünftige Leben Pavels vorstellt.

Der Roman wurde in zwei Teilen in der Berliner Literatur- und Wissenschaftzeitschrift Deutsche Rundschau veröffentlicht und war auf Anhieb ein Erfolg.