Reichel-Kanzler

Der von der Hamburger Universität emeritierte Politikwissenschafter und Historiker Peter Reichel legt 2018 eine politische Biographie einer Zentralgestalt der deutschen Sozialdemokratie der Weimarer Republik vor, die historisch wegen der Koalitionsauflösung von 1930 eher einen schlechten Ruf hat und auch von Helmut Schmidt noch als Negativbeispiel angeführt wurde. Reichel geht durchaus wertend subjektiv vor und versucht Müller aus diesem Ruf eines schlechten Kanzlers zu befreien.

Der gelernte Kaufmann Müller begann früh eine Parteikarriere in Görlitz und wurde von August Bebel wegen seines Organisationstalents gefördert und Parteisekretär der SPD, der wegen seiner Sprachkenntnisse auch Kontakte zu anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien hielt. Noch ein paar Tage vor Kriegsbeginn war er in Paris, um einen europäischen Standpunkt zum drohenden Krieg ausarbeiten zu können. Dies war zu spät, die französische SP wird im Falle eines Angriffs den Kriegskrediten zustimmen, die SPD stimmte zu, nachdem sie von der Regierung schamlos über den Tisch gezogen wurde und meinte, Deutschland werde einen Verteidigungskrieg führen (so Reichel).

Immer wieder wurde Müller von der Partei eingesetzt, um als Zentrist Streitigkeiten zwischen linkem und rechtem Flügel beizulegen, und dieser Ausgleich wurde zu einem Merkmal dieses Sachpolitikers: Einheit sei durch Kompromisse zu erzielen, wobei er sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber der Partei Loyalität bei gefällten Beschlüssen einfordert und auch selbst zeigt, woran er politisch zerbrechen wird.

In der provisorischen Regierung war er es, der eine der beiden deutschen Unterschriften unter den Versailler Vertrag setzt, und Reichel moniert, dass die Sozialdemokratie durchaus selbstbewusste hätte auftreten können als Partei und Regierung, die mit dem Krieg nichts zu tun hat. Als Reichstagsabgeordnerter, Parteivorsitzender und ab 1928 als Kanzler zeigt er jedoch, dass es sehr wohl möglich ist, Revisionsspielräume auszuloten, die 1930 zur Beendigung der Rheinlandbesetzung und wohl auch 1932 zu dem Vertrag von Lausanne und damit der Beendigung der Reparationszahlungen geführt haben.

Reichel gibt der innerparteilichen Auseinandersetzung bis 1923 großen Raum, wobei einschneidende politische Ereignisse wie die Hyperinflation von 1923 eine geringe Rolle spielen. Die zweite Kanzlerschaft Müllers ab 1928 (die erste war in einer Übergangsregierung 1920) konzentriert sich auf zwei parlamentarische und koalitionäre Auseinandersetzungen: Der Bau eines Panzerkreuzers (die SPD hat aufgrund der Verträge der bürgerlichen Vorgängerregierung keine Spielräume) und die Frage nach der Neugestaltung der Arbeitslosenversicherung. An letzterer scheitert am 27. März 1930 die Koalitionsregierung, da die SP-Fraktion einem Kompromiss nicht zustimmen will und Müller auch keine Notverordnungsermächtigung durch Hindenburg erhält. Müller tritt zurück, ab dann wird in der Weimarer Republik mit Präsidialregierungen geherrscht.

Reichel schreibt die Verantwortung des Rücktritts und Koalitionsbruchs dem Verhalten der von den Gewerkschaften dominierten SP-Fraktion im Reichstag zu. Diese hätte Müller gestürzt, nicht er sei verantwortlich zu machen für den Zusammenbruch der letzten parlamentarischen Regierung der Weimarer Republik. Die SPD als Partei müsse sich an die Nase fassen und dürfe sich nicht an Müller abputzen. Auch wenn Reichel die Ursachen eines solchen Verhaltens tiefer in der politischen Geschichte Deutschlands sucht, diese seien in dem Bismarckschen System zu finden, welches Regierung und Parlament komplett getrennt hat und parlamentarisch nie gelernt wurde Kompromisse zu schließen, da dies nicht notwendig war. Das Parlament war irrelevant in Bezug auf Regierungsbildung und hatte auch kein Recht, eine Regierung per Misstrauensvotum abzusetzen. Parteien ware es gewohnt, in Bezug auf Gesetzesabstimmungen ihre Maximalpositionen durchzusetzen, und diese fehlende Kompromisskompetenz war der Boden, warum die Regierung Müller 1930 an einem Vorhaben scheitern konnte, für das bereits ein Kompromissvorschlag vorlag. Dies sei die Tragik von Müller gewesen, womit Reichel einen Bogen zum Tragikbegriff der griechischen Tragödie spannt: Der Untergang war unausweichlich und kann nicht an einem schuldhaften Verhalten eines Einzelnen, in diesem Fall Müller festgemacht werden.

In den Worten Reichels:
Mit Hermann Müller tritt ein Kämpfer ab von der poltischen Bühne, ein Kämpfer für Frieden und Verständigung in Europa, ein parlamentsbesessener Sisyphos inmitten der vielen parlamentsfeindlichen Abgeordneten. (...) Jetzt haben ihn die eigenen Genossen gestürzt.
Dass Müller jedoch eine treibende Kraft war, dass die SPD von 1920 bis 1928 als stimmenstärkste Partei nicht Regierungsverantwortung übernommen hat, auch aus Angst vor einem Zerfall der innerlich zerrissenen Sozialdemokratie, dies hält Reichel für einen Fehler, da auch durch dieses Handeln nicht gelernt werden konnte, mit Kompromissen umzugehen, die nötig sind für koalitionäre Regierungen.

Müller starb 1931 in Folge einer Gallenblasenoperation, die er gegen den Rat der Ärzte um ein Jahr hinausgeschoben hat, bis es zu spät war. Der Bauchraum war vereitert. Warum? Diese Antwort bleibt offen. Müller hat sich nach Abdankung als Kanzler in Wahlkampfarbeit gestürzt, obwohl seine Schmerzen durch Morphium gelindert werden mussten.

Insgesamt ein hochinteressantes Buch, das jedoch manchmal etwas schwer zugänglich ist, vor allem wegen der vielen innerparteilichen bzw. koalitionären Dokumentationen, die manchmal sehr viel Vorwissen voraussetzen.