Bernhard-Keller

Dies ist der zweite, 1976 veröffentlichte autobiographische Text Thomas Bernhards, der seine Lehrjahre in einem Lebensmittelgeschäft in Salzburg von 1947 bis 1949 umfasst.

Mit 16 Jahren beschließt Bernhard spontan, das Gymnasium zu verlassen und am Arbeitsamt eine Lehrstelle zu suchen. Bernhard will nichts mehr mit dem abstumpfenden, sinnlosen Schulwesen zu tun haben, auch verweigert er die bürgerliche Gesellschaft Salzburgs, die er als künstlich und kunsthändlerhaft ansieht und die den Menschen durch ihre Uniformierung als Individuum vernichtet. Er nimmt eine Lehrstelle beim aus Wien stammenden Lebensmittelhändler Karl Podlaha in der Scherzhauserfeldsiedlung im Salzburger Stadtteil Lehen an, einem Sozialviertel, das von den Salzburgern verabscheut wurde, da sogenanntes Lumpenproletariat und Flüchtlinge angesiedelt waren. Bernhard ist glücklich, endlich nützlich sein zu können, er habe sein Leben endlich wieder, scheut auch nicht die harte Arbeit mit dem Schleppen von bis zu 70 Kilogramm schweren Säcken (Mais, Mehl, Kartoffel), gibt aber auch eindringliche Schilderungen der verarmten Gesellschaft, in der es immer wieder zu Gewalttätigkeiten kommt, die er vor allem dann verortet, wenn an Samstagen Familien untätig auf engstem Raum zusammenleben.

Bernhard schildert, dass seine Familie zu neunt in einer kleine Wohnung lebt und bis zu seiner Lehrstelle ein Onkel der einzige mit einem Verdienst ist, mit dem alle acht anderen versorgt werden. Auf dieser Erfahrung baut sich Bernhards Stolz, dass er seit Beginn der Lehrzeit bei Podlaha finanziell nie wieder auf andere angewiesen war und dankbar sein musste, da er seinen Lebensunterhalt selbst erarbeitete.

Auch gibt er einen Einblick, wie schwierig es für Arme in Österreich war, sich mit Lebensmittelkarten durchzuschlagen. Die Sterbequote in der Scherzhauserfeldsiedlung muss hoch gewesen sein, wenn man den Schilderungen Bernhards Glauben schenken kann. Berührend ist sein Mitgefühl mit diesen deklassierten Menschen, auch seine Schilderung der dort lebenden Bulgaren, die mit Fleiß und Liebe die besten Früchte in ihren Gärten gedeihen können.

In den 1970er Jahren wird die Siedlung abgerissen und mit Wohnblöcken, Hochhäusern und einem Fußballstadion überbaut. Ich selbst habe in den 1980er Jahren zwei Jahre lang in diesem Viertel gewohnt, es standen/stehen nur noch einige der alten Häuser dieser in den 1930er Jahren errichteten Siedlung.

Der Kontrast zur Arbeit im Lebensmittelgeschäft bildet die Gesangsausbildung, die Bernhard anscheinend kostenfrei bei einer Familie in der Innenstadt (in der Pfeifergasse) erhalten hat. Bernhard selbst hat wirklich als Sänger bei Opernaufführungen mitgewirkt. Diese Familie sowie die Pfeifergasse nimmt er explizit aus seiner Salzburgkritik aus.

Seine Lehrzeit endet, als er sich bei einem winterlichen Kartoffelabladen eine Rippenfellentzündung einfängt, zu früh aufsteht und wegen eines Rückfalls vier Jahre lang chronisch schwer krank war, wobei sein Leben mehrfach an der Kippe stand.

Stilistisch ist der Text ein "typischer" Bernhard: komplexe, aber leicht lesbare Sätze und Themenvariationen. Bei der Frage, ob der Text auch übertreibe, wie Bernhard es gerne machte, bin ich mir nicht sicher. Denn Übertreibungen finden sich nur in Passagen des Selbstlobs, die schon sehr eigenartig rüberkommen:
Der Herr Podlaha wußte meine Selbständigkeit zu schätzen, nicht oft gehen Intelligenz und händische Geschicklichkeit so gut zusammen wie in meinem Fall. Dazu kamen mein von Natur aus offenes Wesen und die Fähigkeit, bei der geringsten Gelegenheit gut aufgelegt und glücklich zu sein
Meint Berhard das ernst? Ironisiert er sich? Wenn er hier übertreibt, stellt sich die Frage, wie sehr er die Deklassiertheit der Menschen in der Scherzhauserfeldsiedlung übertreibt. Ist sein Verständnis für diese Menschen auch nur Ironie und Übertreibung? Ist seine Empathie gespielt? Wie Vieles bei Bernhard lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Die Stadt Salzburg hat immerhin eine Straße in diesem Viertel nach ihm benannt, auch ist ein Denkmal seiner Person errichtet worden. Sie scheint sich geehrt zu fühlen.