Robinson

Dieser weltberühmte Roman von Defoe wurde 1719 veröffentlicht und besticht im Vergleich zu mittelalterlichen Epen und barocken Episodenromanen durch eine Fokussierung, welche den Weg der Romanliteratur in die Zukunft weist. Der Ich-Erzähler reflektiert über ein Leben von mehr als 30 Jahren (28 Jahre davon auf einer Insel, die Tobago nachgezeichnet ist) und bietet Defoe auch eine Plattform, über gesellschaftliche Werte und Normen zu reflektieren.

Crusoe stammt aus einer wohlhabenden Mittelschichtfamilie und weist die Ratschläge seines Vaters zurück, ein gesichertes Leben in bürgerlichem Wohlstand zu führen, ihn zieht es in die Welt, und das heißt für das 17. Jahrhundert, auf die See. Er will Seemann werden. Doch die Gefahren der Seefahrt lenken sein Leben auf unplanbare Weise, sodass der eigentlich kaum religiöse Crusoe schließlich das Wirken der Vorsehung und Gottes erkennt, sich selbst schließlich sogar mit Hiob vergleicht.

Seine schicksalshaften Stationen seien aufgelistet:

  • Schiffbruch auf dem Weg von Hull nach London.
  • Das englische Schiff auf dem Weg zur Sklavenküste am Golf von Guinea wird von marokkanischen Piraten aufgerieben, Crusoe wird zwei Jahre als Sklave vom Herrscher der Piratenstadt Salé gehalten (das muss der historische Muhammad al-Ayyaschi gewesen sein).
  • Nach der Flucht auf einem Fischerboot wird er von einem portugiesischen Schiff gerettet und der gutherzige Kapitän bringt Crusoe nach Brasilien, wo er mit einem Teil seines ererbten Vermögens, das er aus England bringen lässt, gemeinsam mit einem Compagnon eine Zuckerrohr- und Tabakplantage aufbaut, zunächst alleine, dann mit Hilfe gekaufter Sklaven.
  • Als er auf Ansinnen einer Gruppe von weiteren Plantagenbesitzern ein Schiff anführt, das von Guinea illegal Sklaven nach Brasilien holen soll, strandet das Schiff auf der Hinfahrt bei einem Sturm auf einer Sandbank und als einziger Überlebender eines Rettungsversuchs auf einem Beiboot wird Crusoe auf eine Insel östlich der Mündung des Orinoko geschwemmt (Tobago).
  • Unter großen Anstrengungen baut sich Crusoe mit Hilfe von Gerätschaften, Waffen und Lebensmitteln aus dem gestrandeten Schiff schließlich eine kleine Landwirtschaft mit Gersten- und Reisfeldern sowie einer Ziegenherde auf.
  • Nach gut 20 Jahren wird er gewahr, dass die Insel von Völkern (wohl aus Trinidad) dazu benutzt wird, ihre Kriegsgefangenen zu töten und aufzuspeisen. Ihm gelingt es, einen Gefangenen zu retten, den er als treuen Diener in Waffenführung, Landwirtschaft und auch Religion unterweist, und gemeinsam können sie schließlich sechs Engländer befreien, die auf Trinidad gestrandet waren und nach einem Fluchtversuch von den Einheimischen ermordet werden sollen.
  • Der nächste große Schicksalsmoment nach 28 Jahren Inseldaseins ist die Ankunft von Meuterern eines englischen Schiffes, die auf der Insel den Kapitän und seine Offiziere aussetzen oder morden wollen. Den acht Inselbewohnern gelingt es, die Meuterer zu überwältigen und das Schiff wieder in die Gewalt des Kapitäns zu bringen. Alle acht fahren mit dem Schiff nach Lissabon. Das Inselleben ist abgeschlossen, einige Meuterer werden auf der Insel zurückgelassen und noch mit Waffen und Lebensmitteln versorgt. Sie sollen eine Kolonie aufbauen.
  • In Lissabon nimmt Crusoe Kontakt zu dem mittlerweisen greisen Kapitän auf, der ihn einst nach Brasilien gebracht hat, und mit seiner Hilfe kann er die 28-jährigen Gewinne seiner brasilianischen Plantage lukrieren (sein Compagnon war höchst ehrlich, auch wenn Crusoe als Verschollerer juristisch für tot erklärt wurde) und diese verkaufen. Von diesem Reichtum sichert Crusoe notariell beglaubigt dem Kapitän und auch dessem Sohn eine lebenslange Leibrente zu.
  • Auf einer abenteuerlichen Landreise mit Wolfsrudelattacken nördlich der Pyrenäen kehrt Crusoe im Alter von etwa 50 Jahren als reicher Mann nach England zurück.


Gepaart wird diese Schicksalshaftigkeit durch einen enormen Fleiß und eine zähe Ausdauer dieses Self-Made-Mannes, dieses Urvaters aller Prepper, was schließlich im Alter von etwa 50 Jahren zu großem Reichtum führt. Die Sicherung dieses Reichtums ist aber nur durch wohlmeinende Unterstützung Anderer möglich, wie auch Crusoe selbst diejenigen immer großzügig unterstützt, mit denen er zusammenarbeitet und die ihm beistehen. Das protestantische Arbeitsethos gerinnt in Crusoe zu einer Figur, und dieser wird von Gott durch Reichtum belohnt. Mehrfach schießt Defoe auch seine Spitzen gegen den Katholizismus ab und lässt aus religiösen Gründen Crusoe schließlich nicht mehr zu seinen Besitzungen in Brasilien zurückkehren.

Die katholische Priesterschaft wird mit jener der sogenannten Naturvölker gleichgesetzt, deren einziges Ziel es sei, Macht und Herrschaft auszuüben. In den Worten Crusoes:
Hierdurch erfuhr ich, daß sich sogar unter den unwissendsten Götzendienern der Welt eine Priesterkaste findet, und daß die kluge Politik, aus der Religion ein Geheimniß zu machen, um der Geistlichkeit die Verehrung des Volkes zu erhalten, sich nicht nur in der katholischen, sondern vielleicht in allen Religionen der Welt und sogar bei den rohesten und wildesten Barbaren findet.
Das Gesellschaftsbild ist nicht republikanisch zu nennen. Führungspersonen haben das Letztentscheidungsrecht (seien es Schiffskapitäne oder Crusoe als selbsternannter Gouverneur seiner Insel) und die Abhängigen haben sich unterzuordnen. Crusoe fordert dies mehrfach auch schriftlich von denjenigen ein, mit denen er auf "seiner" Insel in Kontakt kommt. Auch nach seiner Rückkehr nach Europa sieht er sich als Gouverneur der Insel, schickt Handwerker und Frauen dorthin, stattet der neu entstandenen Kolonie mehrfach Besuche ab. Ethisch-moralisch wird das Weltbild eines wohlmeinenden absoluten Herrschers vermittelt.

Auch Sklaverei wird nicht abgelehnt. Es ist kein abolutionistischer Roman. Crusoe selbst hält Sklaven auf seiner Plantage und ist ein, wenn auch durch den Schiffbruch gescheiterter illegaler Sklavenhändler. Einzig auch hier: er ist wohlmeinend und sieht in den afrikanischen und amerikanischen Einwohnern auch Menschen, die sich nicht von Europäern unterscheiden. Sie haben in Crusoes Worten
dieselbe Vernunft, dieselben Neigungen, die gleichen Empfindungen des Wohlwollens und der Dankbarkeit, das gleiche Gefühl für Gutes und Schlechtes und dieselbe Empfindung für Aufrichtigkeit und Treue.
Mehrfach sinniert Crusoe auch darüber, ob er ein Recht habe, in die kannibalistischen Abschlachtungen von Gefangenen einzugreifen. Er schwankt zwischen einem universalen Recht, das für ihn im Christentum begründet ist, und dem Rechtsgrundsatz, dass in einer anderen Gruppe andere Gesetze existieren, für sie das Abschlachten kein Rechtsbruch ist. "Nichteinmischung in innere Angelegenheiten" hieß das noch bis 1991 im sowjetischen Sprachgebrauch. Wobei Crusoe zu einer Mischung aus Individualrecht (der Einzelne ist nicht schuldig, da es kein Gesetz gegen dieses Handeln gäbe, auch in Europa würden Gefangene hingerichtet, wenn auch nicht aufgegessen) und Völkerrecht: die Nation, die dieses Handeln zulässt, ist schuldig und kann nur durch eine höhere Instanz bestraft werden, die für ihn Gott ist. Bei uns ist es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Internationale Strafgerichtshof. In den Worten von Crusoe:
Ihre Verbrechen richteten sie ja nur gegen einander. Es waren Nationalsünden, deren Bestrafung ich der Gerechtigkeit Gottes zu überlassen hatte, welcher die Vergehen der Völker richtet und am besten weiß, wie sie durch Strafen zu rächen und zu sühnen sind.
Zusammenfassend: Es ist ein Abenteuerroman, der drei Viertel lang eine Prepper-Bibel ist und im letzten Viertel zu grundsätzlichen Fragestellungen menschlichen Zusammenlebens vordringt. Bemerkenswert für einen Roman des frühen 18. Jahrhunderts. In seinen Reflexionen weist er zumindest in die Richtung universaler Menschenrechte, und Defoe steht damit durchaus in der Vorläuferschaft von Ideen, die schließlich in England dazu führten, die Sklaverei per Gesetz zu verbieten. Als Kunstwerk ist es modern und die Art, wie Defoe seinen Robinson berichten lässt, zeigt keinerlei Selbstbeweinung.