aus-dem-nebel-des-krieges

Dieser im Frühjahr dieses Jahres erschienene Sammelband enthält Berichte ukrainischer Kreativer und Wissenschafter:innen, die direkt vom Krieg betroffen sind, und gibt einen Einblick in das Unfassbare, was die Menschen in der Ukraine durchmachen müssen, aber auch der Einblick in die ukrainische Geschichte, Kultur und Politik ist sehr erhellend. Ergänzt werden diese Berichte durch drei Beiträge deutscher Wissenschafter:innen. Die geschätzten Flüchtlingszahlen sind exorbitant: sieben Millionen Binnenflüchtlinge, sieben Millionen ins Ausland Geflüchtete (hauptsächlich Frauen und Kinder).

Der Einstieg ist ein Bericht des aus Donezk stammenden russischsprachigen Schriftstellers Volodymyr Rafeyenko, der durch die russischen Angriffe seit 2014 zweimal vertrieben wurde: Einmal ist er 2014 von Donezk nach Kyjiw geflohen und 2022 von seinem Datschenhaus nördlich von Kyjiw, das von russischen Truppen umzingelt war. Seine Frau floh nach Tschechien, seine Kinder leben im Ausland, er ist nun in Kyjiw. Rafeyenko schildert, wie bereits in den Nullerjahren FSB-Leute in Donezk infiltriert wurden und die verdeckte Invasion 2014 vorbereiteten, indem sie auch die ukrainische Staatsbürgerschaft erhielten und Verwaltungs- und Sicherheitsposten anstrebten. Putins Narrativ von der Verfolgung der Russischsprachigen in der Ukraine hält er als Mär, er selbst habe Zeit seines Lebens auf Russisch veröffentlicht, habe Literaturpreise in der Ukraine wie in Russland erhalten. Nach seiner Flucht 2014 habe er Ukrainisch lernen müssen, aber als Ukrainer war für ihn klar, es gibt nur eine Flucht innerhalb der Ukraine. Mittlerweile hat er seinen ersten Roman auf Ukrainisch veröffentlicht, der auch ins Englische übersetzt wurde. Zweimal wurde sein Leben durch russische Aggressionen vernichtet:
Ich plane mein Leben nicht mehr, weil mir die Zuversicht fehlt.

Ich habe keine Freude an Dingen, weil ich weiß, wie leicht man sie verlieren kann. Sowohl 2014 als auch 2022 konnte ich zwei Taschen mitnehmen, alles andere musste dort bleiben.

Ich kaufe keine Bücher mehr, weil ich schon zwei Bibliotheken zurücklassen musste. Eine in Donezk. Eine in der Nähe von Kyiw. Das reicht.

Uberall fühle ich mich fremd und überflüssig.
Die Journalistin Nataliya Gumenyuk arbeitet bei einer Organisation, die Kriegsverbrechen dokumentiert und die Belege gerichtsfähig aufarbeitet. The Reckoning Project hat auch eine englischsprachige Internetpräsentation.

Sie berichtet vom Dorf Jahidne nördlich von Kyjiw, das vom 3. bis 31 März 2022 von russischen Truppen besetzt war. Beinahe alle der 360 Einwohner:innen wurden in Räumlichkeiten und den Keller der örtlichen Schule gesperrt, 136 Menschen wurden in einen 72 m2 großen Raum gesperrt. Die restlichen etwa 200 Menschen wurden in vier kleineren Räumen festgehalten. Folge: zehn Menschen starben an Krankheit oder erstickten. Zehn Männer des Dorfs wurden ermordet. Verantwortlich dafür waren die 55. separate motorisierte Schützenbrigade (stationiert in Kysyl, Tuwa - Heimatgebiet des russischen Verteidigungsministers Schoigu an der mongolischen Grenze) sowie Soldaten des 228. motorisierten Schützenregiments aus Jekaterinburg.

Weiter erzählt sie von der 600.000-Einwohner-Stadt Krywyj Rih, in der 75.000 Binnenvertriebene aufgenommen wurden, etwa 25.000 aus Cherson, weitere 50.000 aus dem bäuerlichen Umland, die meist mit Fahrrädern flohen. Die Vorgehensweise der russischen Besatzer:innen sei überall gleich gewesen: Alle Einwohner:innen wurden festgenommen und "filtriert". Sprich: Es wurde versucht herauszufinden, ob sie beim Militär waren oder sind, ob sie in der ukrainischen Verwaltung arbeiten (dazu zählen auch Polizei, Feuerwehr, Rettung, juristische Berufe) oder ob sie eine ukranische Überzeugung haben. Es wurde gefoltert, die Körper wurden nach Tätowierungen abgesucht, sämtliche Handy-Kontakte und Konten in sozialen Medien sowie Fotosammlungen wurden durchsucht. Verdächtige wurden nach Russland verschleppt.

Die aus Luhansk stammende und in Irpin bei Kyjiw lebende bildende Künstlerin bzw. Kunstwissenschafterin Kateryna Iakovlenko schildert, wie sie in ihrer durch eine Granate zerstörten und abgebrannten Wohnung in Irpin eine Ausstellung organisiert hat. Fotos von dieser Ausstellung sind auf e-flux Critisism online. In Irpin selbst seien etwa zwei Drittel des Wohnraums zerstört worden. Auch berichtet sie davon, dass die orthodoxe Kirche die russischen Besatzungssoldaten mit Geld und Waffen versorgt habe. Darüber, dass sie in ihrer Kindheit in Luhansk nur russisch gesprochen habe, weil ihre Großeltern in der Sowjetunion russifiziert worden seien, schreibt sie im Juli 2022 in der Wiener Zeitung.

Die Medienwissenschafterin Svitlana Matviyenko schreibt über die "Terrorumgebungen", welche von Russland in der Ukraine geschaffen würden. So stellt sie den Begriff "militärische Spezialoperation" in einen kriegsjuristischen Zusammenhang. Durch die Nichtanerkennung als Krieg fühle sich Russland von internationalen Kriegsrechtkonventionen entbunden. Die Armee könne Gewaltmaßnahmen durchführen, die als Kriegsverbrechen angesehen werden, ohne in Russland strafrechtlich belangt zu werden: Folter, Erschießung von Gefangenen, Angriffe auf Zivilist:innen, Angriffe auf zivile Infrastrukturen. Zivilist:innen würden einem "Zustand permanenter Bedrohung" ausgesetzt, der in der Gefangennahme in Filtrationslagern gipfle, in denen nach Datenspuren auch am Körper (Tätowierungen) gesucht werde. Gleichzeitig werde durch Kommunikations-Blackout in besetzten Gebieten versucht, die Menschen mittels Desinformation und Lügen zu verunsichern, da nicht mehr gegengeprüft werden kann, was nun wahr ist und was nicht.

Der aus Donezk stammende Journalist Stanislaw Assejew ist schon länger bekannt. Er arbeitete undercover ab 2014 im von Separatist:innen besetzten Donezk, bis er 2017 enttarnt wurde und zwei Jahre lang im Gefangenenlager und Foltergefängnis Isolyatsiya, einer ehemaligen Fabrik für Isolationsmaterialien und später einem Kunstgelände, inhaftiert war. Zu Beginn seiner Haft war er sechs Wochen im Keller des Gebäudes des Donbaser Ministeriums für Staatssicherheit, wo er unter anderem mit elektrischem Strom gefoltert wurde. Der Kellerraum war 2x5 Meter groß ohne Toilette. 2019 kam er bei einem Gefangenenaustausch frei. Zurück in Kyjiw konnte er ausfindig machen, dass der Kommandant des Gefängnisses nach vorübergehender Flucht nach Russland nun in Kyjiw lebe. Er wurde ausgeforscht und im November 2021 verhaftet. Auf Basis dieser Nachforschungen wurde der Justice Initiative Fund (JIF) gegründet, der sich zum Ziel gesetzt hat, russische Kriegsverbrechen gerichtsfähig zu dokumentieren.

Die Kyjiwer Literaturwissenschafterin Tamara Hundorova schreibt, dass der Überfall Russlands ein Angriff eines Imperiums sei, das sich mit der Dekolonialisierung der Ukraine nicht abfinden könne. Die Ukraine habe beschlossen, Europa zu sein und nicht Russland. Auch die Großen der russischen Literatur hätten in Bezug auf die Ukraine sehr kolonialistisch geschrieben (Puschkins Langgedicht Poltawa feiert die Unterwerfung der Ukraine durch Peter den Großen - ab diesem Schuljahr Pflichtlektüre an russischen Schulen). In der Sowjetzeit sei der Donbas im Zuge der Industrialisierung russifiziert worden, ukrainische Sprache und Kultur wurden als bäuerlich rückständig aufgefasst. Hundorova weist darauf hin, dass Putin sich bei einer Rede auf ein Gedicht von Alexander Blok mit dem Titel Skythen aus dem Jahr 1918 bezogen und damit mit einem zweiten Skythensturm gedroht haben soll. Der von ihr präsentierte Ausschnitt:
Ihr seid Millionen. Wir- Legion, Legion, Legion!
Versucht nur, euch mit uns zu schlagen!
Ja, unsre schrägen Augen, gierig schon,
Verkünden: Wir sind Skythen, Asiaten

Jetzt ist die Stunde da, der Flügelschlag
Des Unheils nähert sich, es künden
Uns eure Kränkungen: bald kommt der Tag,
Wo spurlos eure Städte schwinden!
Quelle: Das ganze Gedicht in der Übersetzung von Heinz Czechowski online auf ruverses.com

Ihr Resumee zu diesem Krieg ist pessimistisch, die Vorstellung von einem "Happy End der Geschichte" sei mit dem Angriff Russlands zerstört worden.

Die Berliner Slawistin Susanne Strätling macht auf zwei sprachliche Phänomene aufmerksam. Durch die Verwendung des Buchstaben "Z" durch die russische Armee sei der Gouverneur der Region Kusbass motiviert worden, per Dekret ab 2. März 2022 den Regionsnamen nun KuZbass schreiben zu lassen. Auch in kyrillischen Schriftzeichen: »KyZbacc«. Andererseits habe Polen eine grammatische Adaption vorgenommen. Bisher hieß in der Ukraine auf Polnisch (wie auch im Russischen) na Ukrainie, nun werde w Ukrainie (wie im Ukrainischen) verwendet.

Die deutsche Kulturwissenschafterin Aleida Assmann schließt mit einem Plädoyer für die Grundsätze der Europäischen Union (pluralistische Nationalstaaten in einer Föderation, die auf Menschenrechte und soziale Werte achtet), zu denen der ukrainische Natonalstaat sich zugehörig fühle, aber durch den Angriff des Imperiums Russland bestehe auch die Gefahr, dass das europäische Experiment scheitern könnte. Darauf fußt ihr Plädoyer für die Solidarität mit der Ukraine, dem sich auch der deutsche Historiker Karl Schlögel anschließt, der einen Verhandlungsfrieden mit Russland im Augenblick nicht für wünschenswert hält, da dieser einer Vernichtung der Ukraine nach sich ziehe.

Versehen ist dieser schmale, aber an Informationen dichte Band mit einer vom Lwiwer (Lemberger) Fotografen Yuriy Hrytsyna ausgewählten Sammlung von 14 Kriegsfotografien.