Ellermeier-HScholl

Die junge freie Historikerin Barbara Ellermeier veröffentlichte 2012 eine Biographie über Hans Scholl, den intellektuellen Kopf der Weißen Rose. Sie folgt in ihrem Buch akribisch den vorhandenen Aufzeichnungen und vor allem den Briefen von Hans Scholl. Einstieg ist der Prozess 1937, als Scholl wegen bündischer Betätigung und einem Devisenvergehen angeklagt war, da er mit einer Jugendgruppe nach Schweden und Lappland trampte, jedoch freigesprochen wurde. Wir lernen den resoluten HJ-Scharführer kennen, der sich als junger Erwachsener immer mehr von den NS-Ideologie befreite (noch 1938 hoffte Hans Scholl auf eine "Vergnügungsfahrt" ins annektierte Wien) und Halt in der Gedankenwelt des katholischen Existenzialismus im Umkreis von Carl Muth fand, welche Grundlage dafür wurde, die bekannten Flugblatt- und Graffitiaktionen in München durchzuführen. Lange wurde sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob Tyrannenmord von einem christlichen Standpunkt aus gerechtfertigt ist. Für die Flugblatterstellung gewinnen Hans Scholl und Alexander Schmorell den Musikwissenschafter Kurt Huber.

Diese Herangehensweise schafft thematische Ungleichgewichte, welche die Lektüre zum Teil etwas langatmig gestalten. So werden über viele Seite Briefwechsel mit den verschiedensten Freundinnen wiedergegeben, während die ersten vier Flugblätter, die an Intellektuelle versendet wurden, nur auf einer Seite referiert werden.

Wendepunkt in Hans Scholls Leben war vermutlich die Immatrikulation an die Universität München, wo er Medizin studierte. Den Frankreichfeldzug musste er als Sanitätsoffizier mitmachen, von dort berichtet er über die vielen stinkenden Leichen französischer Soldaten in einem Fluss, dennoch fraternisierte er, fuhr ohne Genehmigung ins nahe Paris, kaufte ein, um Lebensmittel nach Ulm zu schicken, lernte Französisch, hatte einen französischen "Burschen" (Diener), schreibt über "Erdbeerbowle, Sekt, gebratene Hühner, Spanferkel, gebratene Enten, Weine und Schnäpse". Der Frankreichfeldzug als bewaffnete Touristenfahrt. Dennoch ist seine Arbeit im Lazarett in Versaille so belastend, dass er nicht mehr von einer "Läuterung" durch den Krieg berichtet, sondern über Elend, Überarbeitung, Erschöpfung, Wahnsinn. Doch was ist die andere Seite?
»Paris ist unglaublich vielseitig. Langeweile unmöglich.« Ins Rodin-Museum fährt er zum Fotografieren,
»eine einigermaßen dankbare Beschäftigung«, dann hört er Carmen in der Pariser Oper, besucht das Théâtre de la Madeleine.

Mindestens einmal pro Woche fährt Hans Scholl nach Paris. Das sei zwar verboten, »aber ich finde immer wieder ein Mauseloch«. Tennis, Schwimmen, Radiohören. Radeln durch die Parks von Versailles - seine Tage sind ausgefüllt, wenn auch nicht mit richtiger Arbeit.
Zurück in München studiert er ab 1941 in einer kasernierten Studentenkompanie, mietet sich jedoch bald Zimmer an, um dem Massenschlafsaal - ohne Erlaubnis - entkommen zu können. Seine Schwester Sophie ist zeitgleich zum Reichsarbeitsdienst nördlich des Bodensees eingezogen. In Kontakt zu der Ärzteschaft lernt er von der Euthansieaktion T4.
Sogar in den Mathematikbüchern stehen Schulaufgaben wie: »Der Bau einer Irrenanstalt erfordert 6 Millionen Reichsmark. Wieviele Siedlungshäuser zu je 15 000 Reichsmark hätte man dafür bauen können?« Und: »Nach vorsichtiger Schätzung sind in Deutschland 300 000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. Was kosten diese jährlich insgesamt bei einem Satz von RM 4, - ?«
Von einer Freundin, deren Mutter aus dem Elsass stammt, lernt Hans, dass auch die deutschsprachige elsässische Bevölkerung nicht in ihrer Gesamtheit die Vereinigung mit dem Deutschen Reich begrüßt:
Säuschwowa, Sauschwaben, werden die Deutschen dort genannt, weil sie zahlreiche Restriktionen vorgegeben haben, unter anderem dürfen die Elsässer keine Baskenmützen mehr tragen und kein Französisch sprechen.

In den abgelegenen Tälern des Elsass treffen sie [Hans Scholl und seine Freundin Rose] auf einheimische Bergbauern, die ihr ganzes Leben lang französisch gesprochen haben; nun sollen sie Deutsch lernen.
Immer mehr hält Hans Scholl den Krieg für nutzlos und beginnt, alles Militärische abzulehnen.

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion machen bereits früh Gerüchte die Runde, dass Juden massenhaft ermordet werden. So berichtet ein Freund aus der Jugendzeit seiner Mutter Lina aus der Gegend von Riga:
Im lettischen Dünaburg hätten sie Juden umgebracht, vierzehn ewige Tage lang: »Die Erwachsenen männl. und weibl. wurden alle erschossen, die Kinder bekamen Spritzen. Die Juden (...] hätten geschrieen, bes. die jungen Mädchen.«
Dass von den 116 aus Ulm nach Riga verschleppten Juden nur vier überleben, davon scheinen sie keine Information zu haben. Dennoch hat der Vater eine Ahnung von dem, was sein könnte:
Dass dies für die jüdischen Mitbürger einen Abtransport in den Tod bedeutet, scheint dem Vater klar zu sein: »Im Osten haben sie, wie man sagt, keine Wohnung, keine Betten und kein Essen. Und das jetzt zu Beginn des grausigen russischen Winters! Wie lange dauert solcher Schrecken noch?«
Auch aus Österreich wird von Unmut gegen die Hetzjagd gegen Juden berichtet:
Die Euphorie hat sich nicht halten können: Bayerische Jugendliche, die fast zur selben Zeit wie die beiden Medizinstudenten in der ›Ostmark‹ unterwegs sind, berichten von Unzufriedenheit, von Resignation. Manch einem gehen die Reformen nicht weit genug, andere betonen, wie viel besser es ihnen vor dem ›Anschluss‹ und vor dem Krieg ging.
Unumwunden geben Einzelne zu, wie viel mehr sie verdienten, als sie noch für die Juden arbeiten durften.
Da Ende Januar 1942 während einer Versammlung der Studentenkompanie ein Vorgesetzter ausgepfiffen wird, wird diese schließlich Ende Juli als Sanitäter an die Ostfront geschickt, so auch Hans Scholl. Gleichzeitig bekommt sein Vater, der eine selbständige Treuhandschaft führt, Probleme mit der Gestapo, da er gegenenüber einer Büroangestellten äußerte, "Hitler sei die ärgste Gottesgeißel, die seit Cäsar, Napoleon und anderen die Welt heimgesucht habe."

Die in der ersten Hälfte 1942 veranstalteten Leseabende mit namhaften Professoren christlichen Umfelds führten schließlich zu den ersten vier Flugblättern, die an etwa 100 Intellektuelle ausgesandt wurden. Verfasst haben sie Hans Scholl und sein halbrussischer Freund Alexander Schmorell. In ihnen sind bereits die Verbrechen an Juden und Polen angeführt, es wird ein Recht auf Widerstand konstatiert und zum Umsturz der Regierung aufgerufen. Adressaten sind Schriftsteller, Professoren, Buchhändler und Ärzte in München und Umgebung.

Während des Lazaretteinsatzes in Gschatsk, dem heutigen Gagarin, scheinen Alexander Schmorell (er spricht fließend Russisch) und Hans Scholl auch Kontakt zur einheimischen Bevölkerung aufgenommen zu haben, vor allem zu "Bauern und Fischern", verbringen verbotenerweise Abende bei Gesang und Wodka mit ihnen.
»Dort haben wir einige Gläschen Wodka getrunken«, berichtet Hans Scholl später, »und russische Lieder gesungen, als ob um uns her tiefster Friede wäre.«
In Wirklichkeit war die Front nur etwa 60 Kilometer entfernt. Laut Hans Scholls Russlandtagebuch erfährt er von der viermonatigen Gefängnisstrafe seines Vaters wegen der Gottesgeißel-Aussage. Sophie, die nun den Kriegsarbeitsdienst in einer Ulmer Rüstungsfabrik ableisten muss, freundet sich mit russischen Zwangsarbeiterinnen an. Im November wird die Sanitätskompanie zurückberufen, gerade rechtzeitig, um noch zurückkommen zu können.

Dass auch von der Front ungeschönte Informationen nach Deutschland kommen können, zeigen die Feldpostbriefe des Freunds von Sophie, Fritz Hartnagel.
Durch die Briefe, die ihr der Freund von der Ostfront schreibt, hat sie das Gesicht des Krieges kennengelernt. Sie liest von Flugabwehr und MG-Feuer, von tausend Verwundeten an einem einzigen Tag. Sie liest von der Hungersnot in der Ukraine. Von einem Bauern, dessen eines Kind verhungert und dessen anderes Kind beim Streit um ein Stück Brot erschossen worden ist. Sie liest von Gefangenen am Wegesrand, zusammengebrochen vor Erschöpfung und Hunger, erschossen von denen, die sie bewachen sollten.
Und von seinem Kommandeur informiert Hartnagel:
Mit »zynischer Kaltschnäuzigkeit« berichtet er von der Abschlachtung sämtlicher Juden im besetzten Russland.
... sie erfährt von den ausgeplünderten Gärten, von dem restlos abgeschlachteten Viehbestand ... Sie erfährt von der Trostlosigkeit in Stalingrad, wo Fritz Hartnagel vergeblich versucht, Feuerholz für den Winter zu beschaffen; stattdessen hat er Tausende von Flüchtlingen gesehen, ohne Unterkunft, ohne Essen.
Fritz Hartnagel schafft es mit dem letzten Flieger aus Stalingrad zu entkommen, in Polen (nach Deutschland dürfen Stalingradkämpfer nicht) werden ihm drei erforene Finger der linken Hand amputiert.

Zurück in Deutschland entschließt Hans Scholl sich, dass die Flugblattaktion weitergeführt werden soll, indem die breite Masse der Bevölkerung und nicht nur ein intellektueller Kreis adressiert wird. Es werden Geldgeber organisiert, damit eine Druckmaschine, Papier, Kuverts und Briefmarken gekauft werden können.

Was ist das Ziel? Überliefert sind Ideen von einem föderalistischen Deutschland, einer Württembergischen Regierung, dem Buchprüfer Eugen Grimminger (Geldgeber) wird ein Posten in dieser angeboten. Dieser Gedanke wird nicht weitergeführt, es wird auf britischen Einfluss gehofft und Hans Scholl spricht davon, dass er nach der Niederlage des Verbrecherregimes eine freie Zeitung gründen will. Hans Scholl soll nun Aufputschmittel nehmen und seiner neuen Freundin Gisela Schertling (einer überzeugten Nationalsozialistin) soll er Morphium gespritzt haben (um sie gefügig zu machen?).

Dass sich sein Wille zu einem christlichen Widerstand auch darauf gründet, den Kommunisten nach Kriegsende nicht das Widerstandsmonopol zu überlassen, ist überliefert.
»Wenn nicht auch von christlicher Seite ein starkes Gegengewicht da ist, könnten die nachher ihren Kopf erheben und sagen: Wir haben uns gewehrt, und nun sind wir es, die wollen ...« Damit blitzt auf, was Hans Scholl zu seinen Aktionen antreibt: Wer später mitgestalten will in Deutschland, der muss jetzt dafür den Grundstein legen.
Die Informationen über den Massenmord an den Juden in Osteuropa werden immer detaillierter und stammen von Menschen, die nicht involviert sind wie dem Architekten Manfred Eickemeyer, der immer wieder ins Generalgouvernement reiste. Dieser berichtete eines Abends "von den Vernichtungslagern und der Vergasung von Menschen".

Im Februar 1943 wurden die Flugblätter fünf und sechs verbreitet, in der Nacht vom 3. auf 4. Februar tauchten Graffiti (Schablonenmalereien) mit den Slogans "Nieder mit Hitler" und "Freiheit" in München auf. Selbst die Parteizentrale wird mit einer Parole beschmiert.

Doch sind Sophie (die Logistikerin) und Hans Scholl unvorsichtig, mit den Regeln der Konspiration kaum vertraut. Und warum die beiden am 18. Februar nochmal zurück in den Lichthof der Eingangshalle der Münchner Universität sind, um die letzten Flugblätter zu verstreuen und bei Entdeckung durch den Hausmeister nicht geflohen sind, geht auch aus den Beschreibungen von Ellermeier nicht hervor. Der Volksgerichtshof unter Roland Freisler arbeitete schnell. Am 22. Februar wurden Hans und Sophie Scholl wie Christoph Probst (Vater von drei Kindern) zum Tode verurteilt und hingerichtet, die gesetzlich vorgeschriebene Frist für ein Gnadengesuch am nächsten Morgen um 9 Uhr wurde nicht abgewartet.

Auch Alexander Schmorell wurde des weiteren auf seiner Flucht aufgegriffen, verurteilt und hingerichtet, wie auch der Mitautor Professor Huber. Robert und Lina Scholl (Eltern) wurden in Sippenhaft genommen, der Vater schließlich wegen Feindsenderhörens ins Gefängnis von Kislau eingewiesen. Dennoch war es noch möglich, in einem angemieteten Gartenhaus eine Adressliste mit über 1000 Adressen, die Sophie in ihrer Wäsche versteckt hatte, zu verbrennen, bevor die Gestapo sie in die Hände bekam.