Werfel-Bernadette

Der Prager Jude Franz Werfel ist 1940 im französischen Exil, als die deutsche Wehrmacht Frankreich überfällt und er im Fluchtchaos bei den Pyrenäen feststeckt. Unterbringungsmöglichkeit findet er in Lourdes, und er gelobt, einen Roman über Bernadette Soubirous zu schreiben, falls er es lebend in die USA schafft. Er schafft es und nur nach fünf Monaten wird 1941 Werfels erfolgreichster Roman veröffentlicht. Gewidmet ist er seiner Stieftochter Manon Gropius, die 1935 an Kinderlähmung verstorben ist. Am Ende seiner Vorrede betont Werfel seine tiefe, über die Religionsgemeinschaften hinausgehende Religiosität:
Schon in den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir zugeschworen, immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit - des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten unseres Lebens.
Dennoch ist dieser Roman viel mehr als eine rührselige Heiligengeschichte. Tief führt Werfel uns in eine arme Landgemeinde am Rande der Pyrenäen, während andere Gemeinden aufgrund von Heilwasserfunden wirtschaftlich aufblühen und sogar - wie Biarritz - zum Urlaubsort Napoleon III. werden.
Die Ärmsten sind vielleicht noch ärmer als überall anders in Frankreich. Sie leben am Lande in baufälligen Keuschen. Sie schlafen im Stall mit ihren Tieren. Sie bekommen nur selten ein Zwanzig-Sous-Stück in die Hand. Die Gedanken der Männer kreisen um nichts anderes als um dieses Zwanzig-Sous-Stück. Die Gedanken der Frauen kreisen um den täglichen Milloc, das ersehnte Stück Butter oder Schmalz, den roten oder weißen Fetzen Flanell für ein neues Capulet.
Bernadettes Vater ist ein dem Trunk ergebener Tagelöhner. Er war Müller, doch der Bach seiner Mühle ist ausgetrocknet. Ihre Mutter arbeitet als Wäscherin. Sie leben in einem ehemaligen Gefängnis zur Miete. Die 14-jährige Bernadette ist die schlechteste Schülerin und hat vom katholischen Glauben keinerlei Ahnung, als bei einem Weg mit Geschwistern und Schulfreudinnen ihr in einer Grotte eine weiße Dame (etwa 16- bis 17-jährig) erscheint, die niemand sonst sieht. Fünfzehn Tage lang verspricht sie zu kommen. Die Grotte Massabielle ist ein mieser Ort. Dort werden Schweine gehütet und das Hospital verbrennt bei dieser Höhle die Abfälle.

Doch die Schilderungen und die Trance von Bernadette, wenn sie die Dame sieht, spricht die Bewohnerinnen und Bewohner an. Hunderte folgen ihr täglich zur Grotte. Staatsmacht und Kirche sind in Aufruhr, versuchen mit Verboten die Besuche einzudämmen. Erfolglos. Bernadette kann weder Blasphemie noch Betrügerei nachgewiesen werden.
Die Leute reden immer wieder von der Allerseligsten Jungfrau. Wer aber die Dame auch immer sei, für Bernadette ist sie vor allem die Dame
Sie nimmt kein Geld, ein Lockvogel, der ihre Familie erfolglos zum Verkauf einer Segnung verführen will, wird schließlich von Bewohnern verprügelt. Als der Dechant von Lourdes ein Wunder von der Dame verlangt, pilgern fünftausend Menschen zur Grotte. Das Wunder (ein Aufblühen einer Rose Ende Februar) geschieht nicht, aber Bernadette wird in eine Ecke der Grotte geschickt, um dort zu graben, sich zu waschen und zu trinken. Dort gibt es aber kein Wasser, sie gräbt, schmiert sich feuchten Sand ins Gesicht und frisst ihn. Doch: Es war nicht Grundwasser, das den Sand befeuchtet hat, Handwerkern gelingt es in der darauffolgenden Nacht, genau an dieser Stelle eine Quelle freizulegen, die täglich 122.000 Liter Wasser liefern wird.

Bernadette wird zur Berühmtheit, und Werfel beschreibt sie in einer Weise, die bis zum heutigen Tag Gültigkeit hat:
Sie ist ein Star, so wie jeder Herrscher, Eroberer, Held, Entdecker, Künstler ein Star wird, wenn er ins Blitzlicht des Erfolges gerät. Dieser Erfolg macht ihn automatisch zum Schauspieler seiner selbst, das heißt seiner Lebensrolle, weshalb der Fachausdruck »Star« zutreffend ist. Wer verliert nicht seine unbewußte Natürlichkeit, wenn er von hunderttausend Augen angestarrt wird?
Bernadette verliert sie nicht. Ihre Unschuld, was den Erfolg anbetrifft, ist freilich so erstaunlich groß, daß die Bewahrung der Natürlichkeit keinerlei Verdienst vorstellt. Wenn die Menschen sie nicht begreifen, so begreift auch sie die Menschen nicht. Was haben all diese Tausende davon, ihre Gemeinschaft mit der Dame zu belauern? Wenn niemand käme, wär's doch viel besser. Der Dechant, der Staatsanwalt, der Polizeikommissär würden sie dann in Ruhe lassen. All diese Nachläuferei bringt ihr doch nur Verdruß und Qual.
Bürgermeister Lacadé träumt von Reichtum, lässt das Wasser chemisch analysieren, doch es ist nur normales Trinkwasser. Die Heilwasserträume scheinen zu platzen.
Der Staat hat versagt. Die Kirche hat versagt. Beide sind zusammengeklappt vor den Zwanzigtausend, vor der »Volksbewegung«, die da sehr unvermutet ihnen über den Hals gekommen ist. Staat und Kirche fürchten jedes eigene Willensbegehren, das in den widerspenstigen Massen lauert. Der tiefste Beweggrund beider so gefährdeter Institutionen ist die Angst vor dem Eigenwillen der Masse. Der Beweggrund aber, der Lacadé antreibt, ist der aufrichtigste und mächtigste Beweggrund dieses Zeitalters, das gute Geschäft.
Bernadette wird verhört. Von der Polizei, vom Staatsanwalt, vom Bischof, von Ärzten, von Psychiatern. Ergebnislos. Bernadette kann weder eingesperrt noch in ein Irrenhaus verfrachtet werden. Der Bericht einer Ärztekommission:
»Die junge Bernadette Soubirous«, heißt es da, »ist, bis auf ein angeborenes Asthma, vollständig gesund. Sie leidet niemals an Kopfschmerzen, noch auch an andern nervösen Störungen. Appetit und Schlaf sind ausgezeichnet. Eine pathologische Veranlagung dürfte kaum vorhanden sein. Das Mädchen ist von Natur aus für alle Eindrücke äußerst empfänglich. Es handelt sich vermutlich um eine Hypersensitive, die leicht das Opfer von Einbildungen, ja von Halluzinationen werden kann. Möglicherweise gaukelt ihr ein Lichtstrahl in der Felsnische die Erscheinungen vor. Hyper-sensitive neigen oft zu Übertreibung derartiger Erlebnisse, die sich in schwereren Fällen bis zur Pseudologia phantastica versteigen kann. Es liegt aber kein Grund vor, letztere bei der jungen Soubirous anzunehmen. Die Unterzeichneten sind der Ansicht, daß bei diesem Mädchen sogenannte ekstatische Zustände nicht ausgeschlossen sein mögen, ein psychisches Leiden, dem Somnambulismus ähnlich, das bisher wenig erforscht ist, aber keinerlei Gefahr für die Kranke bedeutet...«
Doch dann geschieht das Unglaubliche: Mit dem Wasser wird ein krankes Auge eines Arbeiters geheilt und das von Lähmungsanfällen heimgesuchte Kind der Nachbarin wird nach einem Bad im Grottenwasser gesund. Die Nachricht verbreitet sich wie Lauffeuer, immer mehr Menschen pilgern zur Quelle, heimlich werden Pläne geschmiedet, aus Lourdes einen Wallfahrtsort zu machen. Die Dame habe laut Bernadette ja zu "Prozessionen" und einer "Kapelle" aufgefordert.

Für Werfel ist dieser Andrang ein stummer Aufschrei des armen Volkes, das nichts von Deismus oder Atheismus wissen will. Es will den Eingriff der Himmelsmächte in ihr Leben zu ihrem Nutzen.
Ein durch erwiesene, aber unerklärbare Heilungen dokumentiertes Wunder bedeutet einen so gewaltigen Einbruch in den offiziellen Deismus und inoffiziellen Nihilismus des Zeitalters, daß sowohl die Sicherheit des Unglaubens als auch die Unsicherheit des Glaubens ins Wanken gerät.
Bernadette geht zu den Schwestern von Nevers, einem Orden, der sich der Krankenbetreuung wie der Schulbildung verschrieben hat. Sie selbst wird 1871 verwundete Soldaten betreuen. Lourdes selbst blüht auf. Immer mehr Heilungen werden trotz strenger Prüfung von der Kirche akzeptiert, der Pilgerstrom wird immer größer, Lourdes wird ein Pilgerzentrum. Hotels werden gebaut, der Andenkenhandel - auch mit Bildern von Bernadette - gedeiht. Bei der Grotte wird eine Marienstatue errichtet, die laut Bernadette, welche die Figuren sieht, keinerlei Ähnlichkeit mit der Dame aufweist. Ein Kirchenbau wird in Planung gegeben.

Bernadette selbst ist schwerkrank. Sie leidet an Knochentuberkulose, die sich an einem riesigen Geschwür an einem Knie äußert. Eine Therapie mit dem Wasser aus der Grotte lehnt sie laut Werfel ab, "weil die Quelle nicht für mich da ist". Sie stirbt mit 35 Jahren im Jahr 1879.

Die letzten Kapitel widmet Werfel den Nachwirkungen. So reist der lange in Lourdes gelebt habende atheistische Schriftsteller Hyazinthe de Lafite zur Grotte, als er mit Kehlkopfkrebs erkrankt ist. Er findet zurück zum Glauben. Ob er geheilt wird, weiß man nicht. Aber was er sieht, berührt ihn zutiefst.
Menschen mit zerstörten Lungen, denen der Blutschaum von den Lippen gewischt werden muß, Menschen mit verkrebsten Eingeweiden, die den Kot nicht halten können. Lafite möchte schnell diesen Kreisen entkommen. Doch der unerbittliche Dozous lenkt ihn in ein Seitenzimmerchen. Dort sitzt in einer Art von verstellbar hochgeschraubtem Lehnstuhl ein etwa elfjähriger Knabe mit einem Blick in den Augen, den Lafite nicht vergessen wird. Die formlosen Beine des Knaben zeigen von den Hüften abwärts bis zu den Fußsohlen alle Sorten von Rot, die es gibt, vom hellen Lachsrot zum lackartig tiefen Rötlichbraun. Aus offenen Gangränen rinnt Blut und Eiter.
Und er resümiert:
es sind durchaus nicht nur die einfältig Frommen, die in Lourdes das Heil suchen, es sind nicht einmal nur Katholiken, die zu uns kommen, sondern auch Protestanten und Juden. Es sind die Verzweifelten, die keinen andern Ausweg mehr haben als diesen
Beendet wird der Roman mit der Heiligsprechung im Jahr 1933. Bernadette, deren Leichnam mumifiziert ist, ist für ihn die Verkörperung eines menschlichen Geistes, der aktuell von den politischen Handlungsträgern zerstört wird. In einem Interview nach Veröffentlichung des Romans sagt Werfel:
Im Jahre 1922 schon wurde in Deutschland von mir ein Stück gespielt, viele hundert Male, das den Nazitypus in seiner nackten Furchtbarkeit zeigte. War jetzt der Tag der Abrechnung gekommen? Eingeweihte wollten meinen Namen auf den Auslieferungslisten gesehen haben. Gab es noch eine irdische Macht, die mir helfen konnte? - Da wandte ich mich an jene mütterliche Kraft des Weltalls, die sich in dem armen Leben der kleinen Bernadette Soubirous und in den Geschichten Lourdes' so heilbringend offenbart hatte. Dieses arme Leben und diese sonderbaren Geschichten, schon hatten sie mich gefangen und eingesponnen.
Ich bin fest überzeugt davon, daß ich ein höchst aktuelles Buch geschrieben habe, obwohl seine Handlung schon im Jahre 1933 abschließt. Ich habe mit vollem Bewußtsein ein aktuelles Buch geschrieben, ein Kampf-Buch dieses Krieges.
Niemand versteht diesen Krieg, sofern er wähnt, es werde vor allem um die Macht von Nationen gestritten, um ihren ›Lebensraum‹, um ökonomische und soziale Formen. Nicht ein materielles, sondern ein geistiges Prinzip steht in diesem Krieg auf dem Spiel. Noch sind die Fronten verworren und die Entwicklung nicht abzusehen. Auf der einen Seite kämpft
der radikale Nihilismus, der im Menschen nicht mehr Gottes Ebenbild sieht, sondern eine amoralische Maschine in einer völlig sinnlosen Welt. Auf der andern, auf unserer Seite kämpft die metaphysische, die religiöse Konzeption des Lebens, die Überzeugung, daß dieser Kosmos vom Geiste geschaffen ist und geistiger Sinn daher jedes Atom durchströmt.
›Das Lied von Bernadette‹ ist ein jubelnder Hymnus auf diesen geistigen Sinn der Welt.