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Raul Hilberg - Destruction of the European Jews (3rd edition 2003)
01.05.2025 um 11:22
Raul Hilberg war der 1926 geborene Sohn einer in Wien lebenden, aus Galizien stammenden jüdischen Familie, der es 1939 gelungen ist, über Kuba in die USA zu fliehen. Seine in Europa gebliebenen Verwandten wurden von den Nationalsozialisten allesamt ermordet. Nach dem College-Abschluss in New York kam er mit der US-Armee nach Europa zurück und wurde nach Kriegsende mit Rechercheaufgaben zu Kriegsverbrechen, unter anderem im Braunen Haus in München, eingesetzt.
Nach Rückkehr in die USA studierte er Geschichte und Jura an der Columbia University, New York. Als Dissertation startete er ein Mammut-Projekt über den Holocaust, das zu seinem Lebenswerk wurde und in drei Auflagen erschien, die letzte 2003 mit einem Umfang von nicht ganz 1400 Seiten. Da er akribisch anhand von Quellen die Täterseite des Holocaust erforschte, war es in den 1950er bzw. 1960er Jahren zunächst schwierig Verlage in den USA bzw. in Deutschland für die Übersetzung zu finden, da die Täterbeschreibungen auch noch lebende Personen umfassten und außer den Nürnberger Prozessen noch keine Strafverfolgungen für die unterrangigen Täterinnen und Täter eingeleitet waren. Erweiterungen seines Werks erarbeitet der in Vermont als Universitätsprofessor tätige Hilberg nach Öffnungen von Archiven, zuletzt in den ehemals kommunistischen osteuropäischen Ländern, deren Archive in den 1990er Jahren geöffnet wurden.
Den Holocaust stellt Hilberg zunächst in den Kontext eines historischen Antisemitismus, dem er eine dreischrittige Eskalation zuweist: Konversion - Vertreibung - Vernichtung. Die Maßnahmen in den Ländern, in denen die Nationalsozialisten die Herrschaft innehatten, folgten laut Hilberg überall vier Stufen: Definition (wer "Jude" ist) - Enteignung - Konzentration - Ermordung.
Beginnend mit Deutschland 1933 bis inklusive den besetzten Gebieten 1945 beschreibt Hilberg anhand von Archivquellen samt Kommunikationspapieren detailliert den Ablauf der antijüdischen Maßnahmen bis hin zu den Mordaktionen, wobei er die juristische wie organisationelle Struktur der jeweiligen Maßnahmenstufen darlegt, in den Organigrammen die Namen der Beteiligten nicht verschweigt sowie deren Rolle analysiert und präsentiert.
Deutlich geht aus den Dokumenten hervor, dass es einen breiten "Spielraum" bei der Umsetzung der Vernichtungs-Richtlinien gab, wie ermordet wird. Ein Beispiel ist der Besuch Himmlers 1941 in Minsk. Nachdem er eine "Schauerschießung" von 100 jüdischen Männern angeordnet und ihr beigewohnt hat, befiehlt er die Tötung von Insaßen einer psychiatrischen Anstalt, die jedoch "humaner" vonstatten gehen sollte. Dieser "Befehl" wurde umgesetzt, indem diese Menschen mit Dynamit gesprengt wurden.
Auch ist unzweifelhaft dokumentiert, dass im Ostfeldzug auch Einheiten der Wehrmacht an den Mordaktionen beteiligt und diese gefödert bzw. gefordert haben. So sind Dokumente vorhanden, welche belegen, dass die SS sich geweigert hat, Menschen zu erschießen, die ihnen Wehrmachtsabteilungen übergeben wollten. Begründung: Die Wehrmacht sollte ihre "Drecksarbeit" selbst machen. Sie hätten schon genug "zu tun".
Unmengen an Dokumenten belegen, dass bereits 1942 auch außerhalb des deutschen Machtbereichs bekannt war, dass die "Deportationen in den Osten" eine massenhafte Ermordung bedeuten, und 1944 war Birkenau als letztes "funktionierende" Vernichtungslager bekannt und das Lager Monowitz wurde auch bombardiert, während es keine Befehle gab, die Zufahrtswege zu zerstören, was womöglich das Leben vieler ungarischer Jüd:innen bzw. denen aus Lodz (August 1944) hätte retten können. Ohne diese Informationen hätten Schweden, die Schweiz und der Vatikan nicht ihre Rettungsaktion der Budapester Jüd:innen eingeleitet.
Als Voraussetzung für Deportation und Vernichtung in europäischen Ländern sieht Hilberg entweder eine Annexion oder Besetzung durch die Wehrmacht. Aus Italien, der Slowakei oder Ungarn wurde erst deportiert, als die Wehrmacht diese Länder besetzt hat und die Regierungen nur mehr Marionettenregierungen waren. Wobei Ungarn eine spezielle Rolle einnimmt: Admiral Horthy konnte auch nach der Besetzung die Deportationen der Budapester Jüd:innen verhindern. Was meiner Ansicht nach jedoch die Frage aufwirft, warum er diesen Deportationsstopp nicht ausgesprochen hat, als zuvor etwa eine halbe Million Menschen aus der ungarischen "Provinz" nach Polen verschleppt und zumeist ermordet wurde.
Das Verhalten der Judenräte, die überall von den Deutschen eingesetzt wurden, stellt Hilberg in einen historischen Zusammenhang, dass über Jahrhunderte die Strategie des Nichtwiderstands bzw. der Zusammenarbeit mit den Verfolgern die größtmögliche Zahl an Überlebenden gesichert hätte. Hilberg kritisiert mehrfach sehr scharf, dass während des Holocaust nicht erkannt wurde, dass diese Strategie nicht mehr zielführend war, und er fragt sich mehrfach, warum eine so große Zahl von verfolgten Menschen nur einmal Widerstand leisteten: 1943 im Warschauer Ghetto.
Der große Teil über die Nachkriegsfolgen beinhaltet die Prozesse in Nürnberg sowie eine lange Liste an strukturell am Holocaust Beteiligten. Ferner werden die Entschädigungsentscheidungen im Detail mit ihren juristischen Implikationen vorgestellt, wobei auch die Prozesse der 1990er Jahre ausfühlich präsentiert wurden, die aus zwei Gründen initiiert werden konnten: Erstmals gab es Zugang zu den ehemals kommunistischen Staaten, die sich grundsätzlich geweigert hatten, für irgendeine Entschädigung verantwortlich zu sein und die ehemals jüdisches Eigentum schlichtweg entschädigungslos verstaatlicht hatten ("Gleichbehandlung"). Außerdem wurde es möglich (auch mittels politischem Druck), Zugang zu Schweizer Bankdaten zu bekommen (altes jüdisches Eigentum bzw. von Nazideutschland gebunkertes jüdisches Raubvermögen).
Obwohl der Eindruck bleibt, dass noch viele Aspekte offen geblieben sind, ist dieses Werk von einer Einzelperson beeindruckend. Die schonungslos anhand von Dokumenten präsentierte Brutalität dieses Massenmords ist beim Lesen eine große und erschütternde Herausforderung.