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Ljuba Arnautovic - Im Verborgenen
gestern um 10:53
Die österreichischen Autorin Ljuba Arnautovic zeichnet in diesem 2019 erschienenen ersten Band ihrer Familientrilogie das Leben ihrer Großmutter mütterlicherseits nach, wobei sie nicht chronologisch erzählt, sondern zwischen den Zeiten und Figuren hin und her springt.
Genovefa wächst in einem Arbeiterhaushalt auf, heiratet zunächst einen Bosnier, deren Ehe schließlich geschieden wird, mit einem Lebensgefährten (Karl), den sie nicht mehr heiraten kann, hat sie einen zweiten Sohn (auch Karl). Sie ist aktiv in der Sozialdemokratie tätig, nähert sich den Kommunisten an und wird nach dem Februaraufstand 1934 immer wieder verhaftet und gefoltert. Nach einer Wasserfolter (Zelle wird bis zum Bauch unter kaltes Wasser gesetzt) entzünden sich Gebärmutter und Eierstöcke, ihr wird durch eine Notoperation das Leben gerettet. Sie versucht sich mit Tabletten zu töten, ihr muss ein Stück Darm herausgeschnitten werden. Bei einem weiteren Verhör wird sie während der Vernehmung stundenlang auf den Kopf geschlagen, was zu einer Gehirnblutung führt, was immer wiederkehrende Lähmungeserscheinungen zu Folge hat. Da sie ihre beiden Söhne mit Hilfe tschechischer Kommunisten in die Sowjetunion schickt, wird sie des Landes vewiesen. Sie lebt in Buchlovice bei ihrer Mutter und in Prag in Wohnungen von Kommunisten. Anträge für ein Exil in der Sowjetunion werden zurückgewiesen. 1939 flieht ihr Lebensgefährte nach London, wird mit der HMT Dunera 1940 nach Australien verfrachtet, kehrt 1942 nach England zurück und heiratet.
Bei einer Inkognito-Fahrt nach Wien trifft sie ihren ehemaligen evangelischen Gefängnispfarrer Hans Rieger, zu dem der Kontakt nie abgebrochen ist, und er erwirkt für Genofeva/Eva von den Nationalsozialisten eine Arbeitsgenehmigung als Kanzleikraft im evangelischen Zentrum. Sie bekommt eine kleine Wohnung in der Kanzlei, wo auch jüdische Menschen versteckt werden. Beklemmend ist, wie die Leiche einer an Lungenentzündung verstorbenen alten Frau von Fleischern im Bad zertückelt, in Bücherkisten aus dem Haus geschmuggelt wird und die Leichenteile in die Donau geworfen werden. Mit dem U-Boot Walter Baumgarten, der wegen seiner getauften jüdischen Großeltern zum "Juden" abgestempelt worden ist, geht sie eine Beziehung ein und heiratet ihn. Doch als Baumgarten die ihm nach Kriegsende zugewiesen Drogerie nicht erhalten kann, da ein Käsehändler dieselbe Räumlichkeit besetzt, erhängt er sich.
Anhand der beiden Söhne zeichnet Arnautovic das Leben in der Sowjetunion nach. Zunächst leben die Kinder, abgeschirmt von der sowjetischen Armut, in besten Verhältnissen: Privatschulen, Sommer in Jalta. Ab 1939 verlieren sie ihre Privilegien. Der ältere Sohn Slavoljub/Slavko wird aus seinem Studentenheim abgeholt, da er ein Gesetz kritisiert und mit Kommiltonen in einer Geheimschrift kommuniziert hat. Wegen antisowjetischer Propaganda wird er zu Lagerhaft verurteilt, wo er 1942 offiziell an avitaminoser Kolitis (Darmentzündung wegen Vitaminmangels) stirbt. Der jüngere Bruder Karl reißt aus und schließt sich kriminellen Banden an. Nach seiner Verhaftung wird er nach Sibirien verbannt.
Arnautovic schiebt mehrfach Dokumente ein, für die sie Echtheit reklamiert. Unfassbar die Nüchternheit des Dokuments, das Walter Baumgarten zum "Juden" stempelt. Ein Todesurteil. Nach dessen Erhalt fingiert Baumgarten einen Selbstmord und taucht unter.
Gauleitung Wien – Amt für SippenforschungAuch das Gerichtsprotokoll, das Slavko in der Sowjetunion unterzeichnen muss, ist zitiert:
Wien 1, Josef-Bürckel-Ring 3, GauhausAn Walter Israel Baumgarten, Wien V, Christophg. 4
An die Geheime Staatspolizei, Stapoleitstelle Wien I, Morzinplatz 4
An den Herrn Polizeipräsidenten in Wien, Abt. II, Dez. 1b Wien I, Bräunerstr. 5
Unser Zeichen: Sippe WSch/Fi 01260/18
Wien, am 16. Oktober 1944
Betrifft: Prüfungsergebnis
In Ihrer Abstammungssache gelangte ich auf Grund der zur Verfügung gestellten Urkunden, des von meiner Dienststelle beschafften Materials und der durchgeführten Erhebungen zu folgendem
P r ü f u n g s e r g e b n i s
Der Prüfling Walter Israel B a u m g a r t e n, geboren am 19. Februar 1896 in Wien, wohnhaft in Wien V, Christophgasse 4, Stand: ledig, ist
J U D E
mit vier der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen im Sinne der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935 (RGBl. Teil I, Seite 1333).
Gründe: Der Prüfling, wie oben, wurde geboren und ausw. seines Geburts- und Taufscheines am 12.3.1896 röm-kath. getauft, als ehelicher Sohn des Wirts Ludwig Baumgarten und der Eleonore (Lea) geb. Richter (beide Eltern vorverstorben).
Der Vater des Prüflings, wie vorher, geboren am 16.5.1848 in Wien, ist der eheliche Sohn der Juden Leopold (isr. Geburtsname Simon) Baumgarten, geboren am 7.5.1798 in Aschau/Böhmen, Israelitische Kultusgemeinde, röm-kath. getauft am 23.7.1846 in der Schottenpfarre zu Wien (Sohn des Handelsmannes Herrmann Baumgarten und der Barbara Popper) und der am 16.2.1831 in Neuzedlisch, Israelitische Kultusgemeinde geheirateten Theresia Steinhart, geboren am 1.12.1812 in Neuzedlisch, röm-kath. getauft am 23.7.1846 in Wien (Tochter des Maierbeer Steinhart und der Barbara Abeles). Seine volljüdische Abstammung ist auf Grund der h.a. beschafften Unterlagen eindeutig nachgewiesen.
Die Mutter des Prüflings, wie vorher, geboren am 10.9.1859 in Lemberg, kath., ist als eheliche Tochter des Samuel Richter und Fanny Zuckerberg ebenfalls zweifellos volljüdischer Abstammung.
Der Prüfling verstand es bisher, seine volljüdische Abstammung, die ihm selbst keinesfalls unbekannt geblieben sein kann, zu verschleiern und sich bei allen Dienststellen als Mischling I. (ersten) Grades auszugeben.
Der Prüfling, selbst niemals dem Judentum angehörig, war auf Grund der oben angeführten Beweise als
J u d e
rassisch einzuordnen.
Dem Prüfling wird aufgetragen, sich unverzüglich nach Erhalt dieses Schreibens in der Stapo-Leitstelle Wien I., Morzinplatz 4, Eingang Salztorgasse, einzufinden. Gegenständliches Schreiben ist mitzuführen und gilt gleichzeitig als Passierschein.
Tschistopol, 12. Dezember 1941Drei weitere Aktenstücke sind von Slavko vorhanden:
Der Ermittlungsbeamte hat dem Beschuldigten seine Rechte erklärt, sich mit dem gesamten Material der Untersuchung bekannt zu machen, worauf dem Beschuldigten zur Einsichtnahme der gesamte Akt in abgehefteter und durchnummerierter Form auf 40 Seiten zur Verfügung gestellt wurde.
Der Beschuldigte hat im Verlauf von einer Stunde und 30 Minuten Einsicht genommen und nach der Einsichtnahme erklärt, dass ihm gemäß Artikel 206 der StPO »das gesamte Ermittlungsverfahren in meiner Sache, bestehend aus einer Akte von 40 Seiten, vollständig bekannt gegeben und erklärt wurde. Die von mir gegebene Aussagen über meine antisowjetischen Äußerungen werden von mir bestätigt. Dem Ermittlungsmaterial kann ich nichts mehr hinzufügen. Ich habe keinerlei Ansuchen an die Untersuchung.«
Aktennotiz vom 15. Jänner 1942Von Karl ist eine Aufzeichnung angeführt, die er nach Rückkehr nach Österreich über seine Haft in Sibirien verfasst hat und in der er offen zugibt, dass er einen Mord begangen hat, um an der Seite der Kriminellen zu sein und überleben zu können:
Der Beschuldigte befindet sich im Gefängnis Nr. 4 der Stadt Tschistopol, Gesundheitszustand: gesund. Beweisstücke zur Sache: nicht vorhanden.
Aktennotiz vom 27. Mai 1942
Wir, die ärztliche Leiterin der Sanitätsabteilung des Gefängnisses Nr. 4 Mjatshina, die diensthabenden Arzthelfer Buljaewa und Djatshin, haben die Leiche des Strafgefangenen Arnautović Slavoljub besichtigt. Geb 1921 in Wien (Österreich), wohnhaft in Moskau, Fräserstraße 16/8, beschuldigt gemäß § 58/10/I, Zuständigkeit Gebietsabteilung des NKWD, überstellt in das Gefängnis Nr. 4 aus der Stadt Kasan, ist am heutigen Tag um 12 Uhr in der Einzelhaftzelle Nr. 8 verstorben. Die Leiche ist mittleren Wuchses, der Zustand ist schlecht und blass, zeigt Leichenflecken.
Die Todesursache: Kolitis avitaminosen Ursprungs.
Aktennotiz vom 16. Juli 1942
Während der Haft in Tschistopoler Gefängnis Nr. 4 ist Arnautović Slavoljub am 27. Mai 1942 verstorben.
Aufgrund des Dargelegten wird beschlossen, die strafrechtliche Verfolgung gemäß Artikel 4 Punkt 1 des Strafgesetzbuches einzustellen. Die Akte Nr. 1095 ist zur Aufbewahrung im Archiv der 1. Spezialabteilung des NKWD Moskau abzulegen.
»Die tägliche Ration bei 100-prozentiger Normerfüllung: 800 g Brot, 20 g Fett, 120 g Hafer, 30 g Fleisch oder Fisch, 27 g Zucker. Es dürfen Ersatzstoffe verwendet werden.« Bei uns gibt es nur Ersatz: Innereien, Fischköpfe, Knorpel, Sehnen und Haut von Tieren. Brot wird mit Kleie und Sägespänen vermischt, wird feucht, lässt sich auswinden.
Nach der Brotverteilung um vier Uhr Früh geht der Brigadier (einer, der schon länger als zwanzig Jahre einsitzt) zum Lagertor, um nach dem Thermometer zu sehen. Unter vierzig Grad müssten die Sträflinge nicht zur Außenarbeit. Heute hat der Tatare Stepan Dienst, da ist nichts Gutes zu erwarten. Der arbeitet für die Lagerverwaltung, die einen Plan zu erfüllen hat. Moskau zählt auf die Arbeitsleistung der Lager überall im Land, und die tiefen Temperaturen stören diesen Plan. Stepan tränkt einen Wattebausch mit Spiritus, stopft ihn ans untere Ende des Thermometers, zündet ein Streichholz an. Ob ich heute als Arbeitsverweigerer in den Isolator geh? Ein gemauertes Erdloch, wenigstens kein Wind. Andererseits: seit über sechs Monaten kein Zucker, und das Gerücht, heute gibt es eine Verteilung. Im Isolator kriegt man nichts ab.
… Doch kein Zucker. Einige haben Erfrierungen an Nasen, Fingern und Zehen. Wunden im Gesicht von Eisteilchen, die der scharfe Wind in die Haut schießt, einige werden eitern. Manchmal stehle ich eine Wollmütze mit Löchern für die Augen, in der Nacht wird sie dann mir wieder gestohlen.
… Deutsche, Polen, Balten, Russen, Mongolen, Kaukasier.
Neider, Intriganten, Mitleidige, Diebe, Barmherzige, Hinterhältige.
Duckmäuser und Wortführer, Machtgierige und Speichellecker, ehrenhafte Diebe und miese Verräter, Jammernde und ewige Optimisten.
Der Hölle Entstiegene und biblische Gestalten: Luzifer, Judas, Hure, Heiliger, Prophet, Märtyrer.
Viele Selbstmorde. Als Erste sterben die Intellektuellen, die Politischen, die Religiösen und die mit den kurzen Strafen – die vertragen Willkür und Erniedrigung noch nicht. Wer vier Monate überlebt, hat kapiert, verbraucht seine Kräfte nicht mehr fürs Gekränktsein. Alle Kraft brauchst du fürs Überleben. Du ersinnst Tricks und Methoden. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Als Einzelner hast du keine Chance. Du musst dich einem Rudel anschließen.
Wer sich keiner Gruppe anschließt, bleibt ohne Schutz, der hat schon verloren. Für mich, den physisch Schwachen, kommen nur die Stärksten infrage. Das Aufnahmeritual bei den Kriminellen: ein Mord. Das Opfer wird bestimmt. Ich betrinke mich gemeinsam mit ihm, dann gehen wir zur Latrine und ich schneide ihm die Kehle durch.