Es ist still geworden im Internet. Nicht im Sinne von weniger Lärm – im Gegenteil. Aber eine bestimmte Art von Stille hat sich ausgebreitet: die Stille des Nichtmehrdenkens. 60 Prozent aller Google-Suchen enden mittlerweile ohne einen einzigen Klick. Die Menschen bekommen ihre Antwort direkt serviert und gehen weiter. Fertig. Abgehakt. Verstanden.
Oder doch nicht?

Der Tod der Neugier
Was hier passiert, ist mehr als nur ein technischer Wandel. Es ist die systematische Abschaffung dessen, was Dietrich Bonhoeffer "innere Selbstständigkeit" nannte. Der Theologe, der 1943 im Gefängnis über das Wesen der Dummheit nachdachte, erkannte: "Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen." 80 Jahre später perfektionieren Algorithmen diesen Mechanismus.
Früher musste man suchen, vergleichen, bewerten. Man klickte sich durch verschiedene Websites, stieß auf widersprüchliche Informationen, musste selbst entscheiden, was glaubwürdig erschien. Das war anstrengend – aber es hielt das Gehirn wach. Heute liefert ChatGPT oder Google AI eine perfekt formulierte Antwort, gespickt mit scheinbaren Fakten und in nettem Ton vorgetragen. Warum sollte man weitersuchen? Die KI hat doch schon alles zusammengefasst. Sie klingt so kompetent, so sicher, so... richtig.

Die Illusion des Informiertseins
Genau das ist das Problem. KI-Systeme erzeugen die Illusion, informiert zu sein, ohne dass echte Informationsarbeit stattfindet. Sie sind wie Restaurants, die perfekt aussehende Plastikgerichte im Schaufenster präsentieren – alles sieht aus wie Nahrung, aber es nährt nicht. Die Schweizer Medien berichten von dramatischen Einbrüchen: Nachrichtenseiten verlieren 30 bis 70 Prozent ihrer Besucher, weil die Menschen sich mit KI-Zusammenfassungen zufriedengeben. Die Washington Post meldet, dass nur noch halb so viele Nutzer über Suchmaschinen auf ihre Artikel gelangen.

Das ist nicht nur ein Problem für Verlage. Es ist ein Problem für die Demokratie. Denn was passiert, wenn Menschen aufhören, Originalquellen zu lesen? Wenn sie nie mehr mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert werden, die nicht in eine 200-Wörter-Zusammenfassung passen?

Der Algorithmus als Wahrheitsfilter
KI-Systeme sind nicht neutral. Sie sind trainiert auf Millionen von Texten – aber welche Texte? Mainstream-Medien, Wikipedia-Artikel, populäre Websites. Was als "vernünftig" gilt, prägt die Algorithmen. Was als "extrem" eingestuft wird, verschwindet aus den Trainingsdaten. Das Ergebnis: KI reproduziert herrschende Meinungen als objektive Wahrheit. Sie verstärkt Konsens, statt Vielfalt zu fördern. Sie glättet Widersprüche, statt sie sichtbar zu machen. Sie produziert jene "geistige Unfreiheit", vor der Bonhoeffer warnte.
Besonders perfide: Die KI präsentiert sich als objektiv, weil sie keine sichtbaren menschlichen Autoren hat. Niemand schreibt "Ich finde" oder "Meiner Meinung nach". Die Algorithmen sprechen im Ton absoluter Gewissheit – und genau das macht sie so gefährlich.

Medien als Rohstofflieferanten
Zeitungen, Magazine und Nachrichtenseiten werden zu bloßen Rohstofflieferanten degradiert. Ihre Artikel werden von KI-Systemen ausgeschlachtet, die Essenz extrahiert und neu verpackt serviert. Die Nutzer bekommen die Information, aber nie die Quelle zu Gesicht. Das zerstört nicht nur Geschäftsmodelle. Es zerstört auch die Möglichkeit, den Kontext zu verstehen, die Argumentationsweise zu bewerten, die Glaubwürdigkeit einzuschätzen. Ein Artikel der Tagesschau wird genauso behandelt wie ein Blogpost eines Hobbyanalysten – beide werden zu Datenpoints in der großen KI-Wissensdatenbank.

Die Entwöhnung vom Denken
Was wirklich beunruhigt: Menschen gewöhnen sich diese neue Passivität an. Sie verlernen, selbst zu recherchieren. Sie verlieren die Fähigkeit, mit Widersprüchen umzugehen. Sie werden abhängig von algorithmischen Filtern, die ihnen sagen, was sie wissen müssen.

Bonhoeffer beschrieb genau diesen Prozess: "Unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung wird dem Menschen seine innere Selbstständigkeit geraubt und er verzichtet darauf, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden." Heute ist die "Machtentfaltung" digital: Algorithmen, die scheinbar alles wissen und perfekte Antworten liefern. Menschen verzichten auf eigenes Nachdenken, weil die KI das ja schon erledigt hat. Sie werden zu Konsumenten vorgefertigter Wahrheiten.

Der Verlust kritischer Medienkompetenz
Früher lernten Menschen zwangsläufig, verschiedene Quellen zu bewerten. Sie merkten, dass die Bild-Zeitung anders schreibt als die FAZ, dass Wikipedia andere Schwerpunkte setzt als Spiegel Online. Sie entwickelten ein Gefühl für Bias, für Perspektiven, für die Grenzen einzelner Quellen. Diese natürliche Medienerziehung findet nicht mehr statt. KI-Nutzer bekommen eine einzige, scheinbar objektive Antwort und denken, das sei die Wahrheit. Sie lernen nie, dass jede Information einen Kontext hat, dass jeder Text eine Perspektive transportiert, dass Wahrheit oft komplizierter ist als eine saubere Zusammenfassung.

Das Ende der Serendipität
Noch etwas geht verloren: die Zufallsentdeckung. Wer verschiedene Websites durchstöbert, stößt auf unerwartete Informationen, auf Zusammenhänge, die er nicht gesucht hatte. Er lernt durch Umwege, entwickelt ein Gefühl für die Komplexität der Welt. KI liefert präzise Antworten auf präzise Fragen. Sie ist effizient, aber sie ist auch steril. Sie vermittelt den Eindruck, als wäre Wissen ein Warenlager, aus dem man sich das Gewünschte abholt. Dabei entsteht Verständnis oft gerade durch die Irrwege, durch das Stolpern über Unerwartetes.

Widerstand gegen die Verdummung
Was tun? Bonhoeffer sah nur einen Ausweg: die Wiedergewinnung geistiger Selbstständigkeit. Das bedeutet heute: bewusst wieder selbst suchen, vergleichen, bewerten. Es bedeutet, KI-Antworten als ersten Hinweis zu verstehen, nicht als letzte Wahrheit. Es bedeutet auch, die Originalquellen aufzusuchen. Wer wissen will, was ein Politiker gesagt hat, sollte die Originalrede lesen, nicht die KI-Zusammenfassung. Wer ein komplexes Thema verstehen will, sollte verschiedene Perspektiven sammeln, nicht eine algorithmische Synthese konsumieren.
Medien müssen sich neu erfinden – nicht als Rohstofflieferanten für KI-Systeme, sondern als Orte direkter Kommunikation, als Plattformen für Diskussion und Debatte. Sie müssen wieder zu dem werden, was sie in der Demokratie sein sollen: Foren für gesellschaftliche Auseinandersetzung.

Die Entscheidung liegt bei uns
Die große Verdummung ist nicht unvermeidlich. Sie ist das Ergebnis von Entscheidungen – von Nutzern, die Bequemlichkeit über Wahrheit stellen, von Unternehmen, die Effizienz über Aufklärung priorisieren, von Gesellschaften, die Konsens über Kontroverse setzen.

Bonhoeffers Warnung war zeitlos: "Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten." Aber er sah auch einen Ausweg: die bewusste Entscheidung für geistige Selbstständigkeit. Heute bedeutet das: Den Mut haben, die bequeme KI-Antwort zu hinterfragen. Die Mühe auf sich nehmen, selbst zu recherchieren. Die Unsicherheit aushalten, wenn Quellen sich widersprechen. Die Komplexität der Welt akzeptieren, statt sich mit simplen Antworten zufriedenzugeben. Die Alternative ist eine Gesellschaft digitaler Zombies, die perfekt informiert und völlig ahnungslos sind. Menschen, die alles wissen und nichts verstehen. Eine Demokratie ohne Demokraten. Die Wahl liegt bei jedem Einzelnen – bei jedem Klick, bei jeder Suche, bei jeder Frage.

Bonhoeffer würde heute sagen: Lasst euch nicht dumm machen. Denkt selbst!