Stell dir vor, du würdest Millionen damit verdienen, Menschen zu erzählen, dass Zigaretten harmlos sind. Plötzlich kommen Wissenschaftler daher und beweisen das Gegenteil. Was machst du? Gibst du dein Geschäftsmodell auf oder kämpfst du gegen die Wissenschaft? Die Geschichte zeigt uns: Die meisten Unternehmen wählen den Kampf. Und dieser Kampf hat ein perfides System hervorgebracht, das heute weite Teile unserer Gesellschaft vergiftet.

Wir leben in einer Zeit, in der Wissenschaftsskepsis zu einem der lukrativsten Geschäftsmodelle unserer Zeit geworden ist. Von der Tabakindustrie über Klimawandelleugner bis hin zu Homöopathie-Vermarktern und Wellness-Gurus haben Unternehmen erkannt, dass sich mit "was wäre wenn" mehr Geld verdienen lässt als mit dem, "was ist". Das Problem ist nicht neu, aber seine Dimensionen sind heute erschreckend. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden systematisch diskreditiert, nicht weil sie falsch wären, sondern weil sie bestimmten Geschäftsinteressen im Weg stehen. Das perfide dabei ist die Methode. Es geht nicht darum, die Wissenschaft zu widerlegen – das wäre schwer möglich. Stattdessen reicht es, Zweifel zu säen. "Doubt is our product", schrieb ein Manager der Tabakindustrie schon in den 1960ern. Zweifel ist das Produkt, denn er ist das beste Mittel, um gegen die Tatsachen anzukämpfen, die in den Köpfen der Öffentlichkeit existieren. Diese Strategie hat sich bewährt und wird heute von unzähligen Branchen kopiert.

Schauen wir uns die fossile Brennstoffindustrie an. Bereits 1959 wussten Ölkonzerne wie Shell von der Klimawirkung fossiler Brennstoffe. Sie schrieben intern, dass das Verbrennen ihrer Produkte "denkbarerweise das Klima verändern könnte". Exxon-Wissenschaftler bestätigten 1968 "ohne vernünftigen Zweifel" den Zusammenhang zwischen fossilen Brennstoffen und Klimawandel. Doch anstatt diese Erkenntnisse zu veröffentlichen, starteten sie eine koordinierte Desinformationskampagne. Gefälschte Briefe an den Kongress, geheim finanzierte Pseudo-Wissenschaftler, Schein-Grassroots-Organisationen – ein ganzer Apparat wurde aufgebaut, um die eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diskreditieren.

Die Nahrungsergänzungsmittel-Industrie nutzt andere, aber ebenso effektive Strategien. Durch geschickte Ausnutzung regulatorischer Schlupflöcher können sie Gesundheitsversprechen machen, ohne deren Wirksamkeit beweisen zu müssen. Sie dürfen "Struktur-/Funktions-Claims" aufstellen, die von der FDA nicht vorab geprüft werden. Gleichzeitig diskreditieren sie die evidenzbasierte Medizin als "zu konservativ" oder "von Big Pharma gesteuert". Das Perfide ist, dass sie das Misstrauen gegen die Pharmaindustrie nutzen, um ihre eigenen kommerziellen Interessen zu verschleiern.

Die Homöopathie-Industrie ist ein besonders dreistes Beispiel. Sie verkauft Wasser als Medizin und behauptet dabei, dass Grundprinzipien der Physik und Chemie für sie nicht gelten. Wenn Studien zeigen, dass Homöopathie nicht besser wirkt als Placebos, wird nicht etwa die Wirksamkeit in Frage gestellt, sondern die Wissenschaft selbst. "Die Schulmedizin versteht die feinen Energien nicht", heißt es dann. Oder: "Homöopathie lässt sich nicht mit reduktionistischen Methoden messen." So wird aus einem klaren wissenschaftlichen Befund ein vermeintlicher Beweis für die Begrenztheit der Wissenschaft.

Hier kommt eine entscheidende psychologische Komponente ins Spiel: Verschwörungserzählungen. Wissenschaftsskepsis und Verschwörungsdenken verstärken sich gegenseitig in einer gefährlichen Spirale. Wer einmal glaubt, dass "die da oben" uns systematisch belügen, wird empfänglich für alternative Erklärungen – egal wie abwegig sie sind. Und genau diese Empfänglichkeit wird kommerziell ausgenutzt. Studien zeigen, dass Menschen mit einer starken Verschwörungsmentalität nicht nur Klimawandel und Evolution ablehnen, sondern auch anfälliger für virale Falschinformationen über Wissenschaft sind. Das ist kein Zufall. Verschwörungserzählungen bieten einfache Erklärungen für komplexe Probleme und vermitteln das Gefühl, zu den "Eingeweihten" zu gehören. Sie befriedigen psychologische Bedürfnisse – das Bedürfnis nach Verständnis, nach Kontrolle, nach Einzigartigkeit.

Clevere Geschäftemacher haben erkannt, dass sich diese Bedürfnisse monetarisieren lassen. Sie verkaufen nicht nur Produkte, sondern Identität. Wer ihre Nahrungsergänzungsmittel kauft, gehört zu den "Aufgewachten", die die Wahrheit erkannt haben. Wer ihre Detox-Kuren macht, widersteht der "Vergiftung durch das System". Wer ihre Energiekristalle kauft, nutzt "uraltes Wissen", das "die Wissenschaft nicht versteht". Social Media haben diese Dynamiken dramatisch verstärkt. Die Algorithmen der Plattformen sind darauf optimiert, Aufmerksamkeit zu erzeugen und Nutzer möglichst lange online zu halten. Emotionale, kontroverse Inhalte bekommen mehr Engagement – und damit mehr Reichweite. Falschnachrichten werden 70 Prozent häufiger geteilt als wahre Informationen, weil sie oft emotionaler und zugespitzter formuliert sind. Ein konkretes Beispiel: "Kamala Harris 'may need to steal' the election to save democracy" - diese gefälschte Schlagzeile der Atlantic wurde über 3 Millionen Mal angesehen. Oder die falschen Behauptungen über "DNA-verändernde Covid-Impfungen", die sich viral verbreiteten und fortan von Vielen für wahr gehalten werden, während nüchterne Faktenchecks ignoriert wurden. Studien zeigen, dass Menschen mit hohen Emotionen jeder Art - "heiße" Nutzer - am ehesten Falschnachrichten teilen. Positive Emotionen verstärken bei Fake News deren Reichweite um 61 Prozent und verlängern deren Lebensdauer um 38 Prozent. Wut, Erwartung und paradoxerweise auch Vertrauen machen Falschmeldungen viral. Das ist kein Zufall - Fake News sind darauf designt, starke emotionale Reaktionen auszulösen.

Das Geschäftsmodell von Facebook, YouTube und Co. basiert darauf, unsere Zeit und Aufmerksamkeit an Werbetreibende zu verkaufen. Je länger wir online bleiben, desto mehr Geld verdienen sie. Ob die Inhalte wahr oder falsch sind, spielt für den Algorithmus keine Rolle – wichtig ist nur, dass sie uns fesseln. So werden wissenschaftsskeptische Inhalte systematisch bevorzugt, weil sie starke emotionale Reaktionen auslösen. Verschwörungstheoretiker haben das begriffen und nutzen es geschickt aus. Sie produzieren Inhalte, die perfekt auf die Algorithmen zugeschnitten sind: empörend, geheimnisvoll, identitätsstiftend. Gleichzeitig bauen sie sich parallel Einnahmequellen auf. Viele "Wahrheitssprecher" verkaufen Bücher, Kurse, Nahrungsergänzungsmittel oder sammeln Spenden. Die Verschwörungserzählung wird zum Geschäftsmodell. Ein Beispiel sind die selbsternannten Impfkritiker während der Corona-Pandemie. Viele prominente Figuren der Szene verkauften nebenbei "immunstärkende" Produkte, "Anti-Covid-Vitamine" oder "natürliche Alternativen zur Impfung". Die Angst vor der Impfung wurde geschürt, um Produkte zu verkaufen, die diese Angst vermeintlich mildern konnten. Perfider geht es kaum.

Das Problem ist systemisch. Solange Desinformation profitabel bleibt, wird es sie geben. Solange Algorithmen kontroverse Inhalte bevorzugen, werden Verschwörungstheorien florieren. Solange es regulatorische Schlupflöcher gibt, werden sie von skrupellosen Geschäftemachern ausgenutzt.

Was können wir dagegen tun? Zunächst müssen wir das Problem als das erkennen, was es ist: einen konzertierten Angriff auf die Grundlagen unserer Wissensgesellschaft, motiviert durch Gier. Es reicht nicht, einzelne Falschinformationen zu widerlegen – wir müssen verstehen, dass das System darauf ausgelegt ist, Profit vor Wahrheit zu stellen. Seit 1976 beispielsweise genießen Homöopathie, Anthroposophie und Phytotherapie als "besonderen Therapierichtungen" einen gesetzlich verankerten Sonderstatus. Sie müssen ihre Wirksamkeit nicht wie andere Arzneimittel beweisen, sondern werden im "Binnenkonsens" der eigenen Vertreter beurteilt. Die Paten der Branche durften fortan selbst festlegen, was in ihrem Machtbereich als wahr oder falsch gelten soll. Das ist kein Versehen, sondern Absicht: Der Gesetzgeber erlaubte explizit einen "Wissenschaftspluralismus", mit dem auch völlig Unwissenschaftliches zu gesichertem, wenn auch nur "tradierten" Wissen erklärt wurde. Während normale Medikamente jahrelange Prüfverfahren durchlaufen müssen und nur acht Prozent aller Neuentwicklungen überhaupt zugelassen werden, spricht die Kommission D sogar Hundekot und Mondlicht eine Heilwirkung zu. Die Homöopathie-Lobby, organisiert durch den Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte und dessen Managementgesellschaft, sorgt dafür, dass diese Privilegien erhalten bleiben. Diese Lobby ist extrem erfolgreich: Allein die DHU macht mit 500 Mitarbeitern jährlich 100 Millionen Euro Umsatz – das sind 200.000 Euro pro Mitarbeiter. Zum Vergleich: Bayer schafft nur 100.000 Euro pro Mitarbeiter, die Deutsche Bank 250.000 Euro. Die Homöopathieverkäufer liegen damit im Bereich von Investment-Banken und Tech-Giganten – nur dass sie im Wesentlichen umetikettierten Zucker verkaufen. Kein Wunder bei null Forschungskosten, minimalen Produktionskosten und maximalen Gewinnspannen. Selbst den einzig aufwändigen Produktionsschritt, das Potenzieren, ließe sich einsparen - keiner noch so akribischen Qualitätskontrolle würde ein Unterschied im Reinheitsgrad des Zuckers auffallen.

Aber das ist nur die eine Seite des Geschäfts. Die andere sind die Ärzte selbst. Durch spezielle Selektivverträge, die der DZVhÄ beispielsweise mit der Kassenärztlichen Vereinigung Bremens ausgehandelt hat, wird eine Erstanamnese von 60 Minuten mit 92 bis 97 Euro vergütet. Folgegespräche von 30 Minuten bringen weitere 50 Euro pro Quartal. Zusammen mit weiteren "Beratungsleistungen" kann ein homöopathischer Arzt über 700 Euro je Patient und Jahr aus der Krankenkasse herausholen – für insgesamt siebeneinhalb Stunden Gesprächszeit. Das entspricht einem Stundensatz von knapp 100 Euro für nettes Reden und das Bedienen einer Repertorisierungs-Software. Ein Homöopath dort benötigt lediglich 200 Patienten mit einem Zipperlein pro Quartal, um allein an Kassenleistungen 140k€ Jahreseinkommen zu generieren. Ein lukratives Geschäftsmodell für jeden, der zwar irgendwie die ärztliche Promotion geschafft hat (die laut Wissenschaftsrat ohnehin nur ein Witz ist), aber mit Wissenschaft nichts am Hut hat. Solange sie sich "ganzheitlich" geben und ihren Kunden einreden können, dass verdünntes Nichts heilt, leben sie dank finanzstarker Lobbyarbeit sehr gut. Wer kann es ihnen verdenken, dass sie dieses legalisierte Betrugssystem mit allen Mitteln verteidigen.

Was bleibt uns also? Wir müssen lernen, das System der Wissenschaftsfeindlichkeit zu durchschauen und ihm zu widerstehen. Wir könnten zB aufhören, Inhalte zu teilen, nur weil sie unsere Vorurteile bestätigen oder starke Emotionen auslösen. Wir können hinterfragen, wer von einer Behauptung profitiert und warum sie uns überhaupt präsentiert wird. Wir können uns fragen: Wer verdient daran, wenn ich das glaube? Am wichtigsten aber ist: Wir müssen die Wissenschaft verteidigen. Nicht weil sie unfehlbar wäre – das ist sie nicht. Sondern weil sie die beste Methode ist, die wir haben, um die Welt zu verstehen und Probleme zu lösen. Die Wissenschaft ist selbstkorrigierend, transparent und auf Evidenz basiert. Sie ist das genaue Gegenteil der Systeme, die "was wäre wenn" verkaufen. Die Schlacht um die Wahrheit wird in den kommenden Jahren entscheiden, ob wir als Gesellschaft die großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen können. Wissenschaftsskepsis als Geschäftsmodell ist nicht nur ein ökonomisches Problem, sondern eine existentielle Bedrohung für unsere Zukunft. Es ist höchste Zeit, dass wir diesem perfiden Spiel ein Ende setzen.

Wenn Wissenschaft dem Geschäft schadet, dann schadet das Geschäft jedem von uns – außer den Geschäftemachern selbst.