Reinhardt-Train Kids

Der deutsche Schriftsteller Dirk Reinhardt hat 2015 einen extrem spannenden Text im Genre Abenteuerroman veröffentlicht, der eine Gruppe von Kindern von der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko bis nach Texas begleitet, die als Illegale auf Güterzügen durch Mexiko reisen. Diese Migrationsreisen gibt es wirklich und Reinhardt hat in Mexiko recherchiert und mit Migranten sowie Unterstützungshäusern Kontakt aufgenommen. Ob er einen Teil der Strecke mitgefahren ist, weiß ich nicht und er schreibt auch nichts darüber, aber die Schilderungen sind sehr detailliert und nachvollziehbar, wie überhaupt Reinhardt ein begnadeter Schriftsteller ist: Bis ins Detail werden die Fahrt und die Ereignisse, denen die Kinder ausgesetzt sind, beschrieben.

Erzählt wird aus der Perspektive des 14-jährigen Miguel. Er stammt aus einer kleinen guatemaltekischen Stadt, sein Vater ist verstorben und seine Mutter in die USA migriert, wo sie in Los Angeles als Haushaltshilfe und Kindermädchen arbeitet. Miguel lebt mit seiner jüngeren Schwester bei einer Tante und einem Onkel, und um Geld zum Überleben zu haben, gehen die beiden täglich auf die örtliche Müllhalde, um noch Verkaufbares herauszufischen. Seine Mutter schickt auch immer wieder Geld, aber sie holt ihn nicht wie versprochen in die USA. So beschließt er, auf eigene Faust den Güterzugweg durch Mexiko zu nehmen.

Am Grenzfluss zwischen Guatemala und Mexiko schließt er sich mit vier weiteren Kindern/Jugendlichen zusammen:

  • Fernando: Er ist aus El Salvador und schon etwas älter, scheint sich auszukennen, kennt die Gefahren, hat Kontakte und erzählt immer wieder von früheren Reisen.
  • Emilio: Er ist Indio aus Honduras und wurde auf einer Kaffeeplantage vom Verwalter und dessen Söhnen permanent geschlagen, sodass seine Beine mit Narben übersät sind. Er schafft es nicht bis zur US-Grenze. Bei einem Überfall auf den Zug wird er gefesselt vom Waggon geworfen, überlebt jedoch und geht vermutlich zurück. Sein Alternativtraum war immer, sich zuhause Rebellengruppen in den Bergen anzuschließen.
  • Ángel: Er ist aus Guatemala und erst zwölf. Nördlich von Mexico City beschließt er, zu seinen Großeltern zurückzukehren. Die Geiselnahme durch Mitglieder der Drogenbande Zetas, die Lösegeld erpressen und diejenigen ermorden, für die kein Geld gezahlt wird, hat ihm den Rest gegeben. Aufgrund seiner kleinen Hände kann er sich aus den Handschellen befreien (Preis: eine gebrochene Hand) und die anderen befreien. Ein Ranger fährt sie zu einer Hilfsstelle und dort beschließt er die Umkehr. Es gibt ein Netzwerk, welche Rückkehrwillige an die Grenze nach Guatemala fahren.
  • Jazmina: Sie ist aus El Salvador und auch 14 und gibt sich als Junge aus.


Es ist nicht nur die Fahrt beschwerlich (rüttelnde Waggons, sengende Hitze, gefährliches Aufspringen, Erstickungsgefahr in den Tunneln nördlich von Mexico City), sondern die Migrierenden sind auch permanent bedroht: durch Razzien der Migrationspolizei, Razzien der die Fahrenden ausraubenden regulären Polizei, betrügerische Mitreisende, den Zug stoppende Verbrecherbanden wie den Zetas. Hilfe gibt es nur an zwei Orten auf der Reise durch kirchliche Hilfsorganisationen, bei denen sie jeweils drei Tage bleiben dürfen, bzw. durch Bauernfamilien, die sie in ihrer Not ansteuern. Einmal zum Beispiel nach dem Überfall, bei dem Emilio vom Zug geworfen worden ist und gleich ihre Schuhe dazu. Sie springen vom Zug, vergessen ihr Gepäck, aber finden die Schuhe. In einem Bauernhof erhalten sie Hilfe, da der Sohn der Frau auch auf diesem Weg gefahren ist und sie nichts von ihm weiß, und sie erfahren, dass Emilio nicht schwer verletzt ist und den Bauernhof nach einer Nacht verlassen hat.

Zu dritt (Fernando, Jazmina und Miguel) erreichen sie die Grenzstadt Nuevo Laredo, die von Drogen- und Schlepperbanden kontrolliert wird und ein fragwürdiges Vergnügungsparadies für US-Amerikaner ist inklusive Kinderstrich (Buben und Mädchen) ist. Dort erwirtschaften sie Geld, um Schlepper bezahlen zu können, die sie über die Grenze bringen. Eine Methode: Miguel steht am Kinderstrich und gemeinsam mit Fernando raubt er Freier aus. Das geht einige Tage gut, dann werden sie von anderen Strichern, die ihr Geschäft gefährdet sehen, verjagt. Jazmina wollte sich prostituieren, schafft es aber nicht. Aber schließlich haben sie genug Geld.

Damit sollte ein Aspekt des Buchs angesprochen werden, der nachdenklich stimmt. Zweimal bezahlt Fernando Bandenmitglieder, um sie zu schleppen, und beide Male arbeiten die ihnen Zugeteilten höchst professionell. Einmal ist es ein Mitglied der Mara Salvatrucha (Wikipedia), der sie in Chiapas unbehelligt durch Polizeikontrollen und Überfälle bringt, das andere Mal ist es der Schlepper in Nuevo Laredo, der sie über den Rio Bravo und das US-Abwasserkanalsystem nach Texas bringt und Wagen stellt, die sie an ihre Zielorte bringen.

Am Ende stellt sich die Frage, warum Fernando das macht. Beim Kanaldeckel auf einem Supermarktparkplatz auf texanischer Seite wartet US-Polizei. Fernando lenkt sie ab und lässt sich festnehmen, während Jazmina und Miguel zu ihrem jeweiligen Wagen laufen können, der sie nach Chicago respektive Los Angeles bringt. Fernando erklärt vorher, dass sein Vater gar nicht in Texas lebe, sondern auf einer solcher Fahrten unter die Räder gekommen und verstorben sei. Er will zurück an den Anfang und wieder fahren. Wie schon so oft.

Miguel findet in Los Angeles seine Mutter an der von ihr geschriebenen Adresse, zieht bei ihr ein und beginnt als Schwarzarbeiter als Regalschlichter in einem Supermarkt. Wie es mit Jazmina weitergeht, erfahren wir nicht.

Wie gesagt, der Roman ist extrem spannend geschrieben, erhebt keine Zeigefinger, beschönigt nicht und ist definitiv eine Leseempfehlung auch für Erwachsene wie mich.