Gemmel-Befreiungsschlag

2017 hat der deutsche Jugendbuchautor Stefan Gemmel gemeinsam mit dem Koblenzer Antigewaltstrainer Uwe Zissener einen idealtypischen Roman über Antigewalttrainings (AGTs) im Strafvollzug herausgebracht. Es vermittelt realistisch, mit welchen Methoden in AGTs gearbeitet wird, wobei der "pädagogische" Impetus des Werks seine literarische Ausgestaltung etwas eindimensional ausfallen lässt und Charaktere behavioristisch durch ein Reiz-Reaktions-Schema geprägt sind: Es sind Trigger, die gewisse Verhalten auslösen (gewaltsame oder eben nicht gewaltsame). In AGTs wird versucht, entweder die Trigger zu entschärfen oder die Reaktion auf einen Trigger neu zu belegen.

Der Roman beginnt damit, dass der 17-jährige Maik wegen schwerer Körperverletzung zu eineinhalb Jahren Gefängnis auf drei Jahre bedingt, 80 Sozialstunden und einem AGT verurteilt wird. Maik lebt bei seiner alleinerziehenden Mutter, hat einen sehr schlechten Berufsreifeabschluss, bekommt keine Lehrstelle und sitzt eine Berufsförderungsmaßnahme uninterssiert und mit vielen Fehlstunden ab. Er ist dermaßen reizbar, dass er zuschlägt, wenn ihn auch nur jemand schief anschaut.

Die beiden Trainer im AGT fördern in ihm den Hintergrund zu Tage, warum er so ist und warum er den ehemaligen Grundschulklassenkollegen Bjarne krankenhausreif geschlagen hat. Dieser hat ihn in der Grundschule permanent vor der Klasse als Loser beschimpft, da er in so armen Verhältnissen aufwächst, sodass er aus finanziellen Gründen nicht an einer Klassenfahrt teilnehmen kann. In der Hauptschule wird er dann von einem Jonas gemobbt, den er am Schulhof blutig schlägt. Sein Selbstwertgefühl ist im Keller und diejenigen, die ihn nerven, stopft er das Maul durch Schläge. "Maiks Faust brachte Jonas zum Schweigen."

Im AGT, das ihm gefällt, wird er umgepolt. Er lernt die Sicht eines kennen, der wehrlos am Boden liegt und auf den eingetreten wird, er schreibt einen Brief Bjarne (kann er abschicken, muss aber nicht) und schließlich findet er für sich einen Weg, wie auf einen Trigger anders als mit Gewalt reagiert wird: Er geht von der Konfliktsituation weg, bevor er zuschlägt, und fühlt sich dabei nicht mehr als Verlierer (wird an einem Beispiel in einem Café veranschaulicht).

Mit für diese Wendung verantwortlich ist ein Besuch in einer Strafanstalt, wo er Gelegenheit hat, mit Totschlägern und Mördern zu reden. Und einer von ihnen sagt:
"Wir alle sitzen im Knast, weil wir nie über unsere Probleme gesprochen haben. Das ist das Verbrechen, das wir uns selbst gegenüber begangen haben. Alle anderen Taten resultieren einzig und allein daraus: Wir haben nie über unsere Gefühle gesprochen. Wie also hätte jemand wissen können, dass wir Hilfe brauchen? Wie soll uns jemand verstehen können, wenn wir das, was uns beschäftigt und so arg zusetzt, niemandem erzählen? All unsere ›Befreiungsschläge‹, all unsere Taten, um uns zu beweisen und uns durchzusetzen, waren ›Luftschüsse‹. Alles das wäre nicht nötig gewesen, wenn uns eines gelungen wäre: über unsere Gefühle zu sprechen."
Der Schluss wirkt dann schon übertrieben kitschig. Maik hat den Brief an Bjarne abgeschickt und klingelt schließlich an dessen Haustüre. Bjarne, den Maik fast tot geschlagen hat, ist erfreut über den Brief gewesen und bittet Maik ins Haus. Dies ist der Befreiungsschlag.

Bereits zuvor hat sich das Verhältnis zu seiner Mutter, die auch zu rauchen aufhört, gebessert, Maik ist mit seiner Freundin Julia nun fix beisammen, er hilft seinem Großvater samstäglich im Garten und beginnt eine Lehre als Pfleger, da ihm die Sozialstunden an einer Schule für Kinder mit besonderen Bedürfnissen sehr gut gefallen hat.

Dass nicht alles eitel Sonnenschein in AGTs ist, zeigt, dass drei rückfällig werden und in den Knast müssen, einer geht in eine Drogenentziehungskur. Von acht beenden vier den Kurs, ob jemand danach rückfällig wird, ist nicht angesprochen.

Fazit: Durchaus interessant (der AGT-Teil), aber schon sehr dick aufgetragen, was Charaktere und Handlung betrifft.