Narrenschiffer
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Uri Orlev - Lauf, Junge, lauf
25.09.2025 um 13:01
Der israelische Kinder- und Jugendbuchautor Uri Orlev hat in diesem Roman die Kindheitsgeschichte des Mathematikers Yoram Fridman fiktiv verarbeitet.
Der achtjährige Srulik lebt mit seiner Mutter im Warschauer Ghetto und beim Lebensmittelsuchen in den Abfällen kommt ihm seine Mutter abhanden. Srulik weiß nicht, wo sie wohnen, und er kann auch nicht lesen. Während einer deutschen "Aktion" flieht er mit anderen aus dem Ghetto und schlägt sich drei Jahre lang in polnischen Wäldern und bei Bauern als Arbeitskraft durch, von wo er immer wieder wegläuft, wenn er geschlagen wird oder wenn ihm die Situation zu heikel wird, da er nie sicher sein kann, ob nicht doch jemand ihn an die Deutschen verrät, dass er ein jüdisches Kind ist.
Seine Geistesgegenwart und sein rasches Handeln, wenn er von einem Ort weg muss, scheint die Grundlage seines Überlebens zu sein. Er nimmt einen polnischen Namen an und nennt sich Jurek, und er hängt sich sogar christliche Zeichen um den Hals. Selbst als ihn ein Gestapo-Mann als Hilfsdiener zu seiner Freundin, einer Deutschpolin, bringt, und sein Jüdischsein auffällt, kann er sich mehrfach den ihn verfolgenden Deutschen entziehen. Am Ende überlebt er bei ihr sogar in einem Keller, als dieses Haus und das Dorf abgebrannt wird, weil von den Dorfbewohner:innen Partisanen unterstützt werden.
Dieser Horrortrip immer am Rande des Verhungerns und des Gefangenwerdens wird noch gesteigert, als er bei einer Mahlmaschine mit einer Hand ins Mahlwerk gerät und der diensthabende Arzt in einem Krankenhaus eine Behandlung verweigert, da er ein jüdisches Kind ist. Am nächsten Tag musste ihm wegen Wundbrands vom Chefchirurgen der rechte Arm oberhalb des Ellbogens amputiert werden.
Srulik/Jurek verzweifelt nicht, lernt mit seiner Situation umzugehen und mit viel Geschicklichkeit kann er jede Arbeit übernehmen. Auf diese Weise überlebt er bis zum Eintreffen der Roten Armee und er freundet sich mit einem russischen Soldaten an, der ihn mit nach Warschau nimmt, wo ihn ein Priester in Obhut nimmt. Dort erfährt er auch, dass seine Mutter und seine Geschwister ermordet wurden. Auch erfährt er wieder seinen eigenen Namen, den er über die Jahre vergessen hat.
Den Tod seines Vaters hat er auf der Flucht in einem Kornfeld miterleben müssen: Er ist erschossen worden. Ob diese Zufallsbegegnung (beide unabhängig auf der Flucht) Erfindung ist oder auch in Realität geschehen ist, kann ich nicht eruieren.
Damit endet der Roman und im Nachwort wird berichtet, dass ihm der Priester eine Grundschul- und Gymnasialausbildung ermöglicht hat, die er in der Hälfte der Zeit absolviert hat. Auf dessen Anraten wechselt er auch vom Geschichte- und Marxismusstudium zu Mathematik, worin seine Talente gelegen haben, und schließlich zieht er nach Israel, nimmt den Namen Yoram an und heiratet eine Frau, die er als Mädchen auf seiner Flucht kennengelernt hat.
Stilistisch ist der Roman wegen der Kluft zwischen dem Horror, den das Kind hat durchmachen müssen, und dem neutralen, berichtenden, nicht psychologisierenden Schreibstil manchmal sogar eigentümlich zu lesen, da es erscheint, als ob die permanente Todesgefahr dem kleinen Srulik nichts anhaben kann. Oder reflektiert dieser Stil dessen Charakter, der ihm das Überleben ermöglicht hat?