Roth-Bueste

1934 verfasste der 40-jährige, aus Brody in Ostgalizien (heute Ukraine) stammende österreichische Schriftsteller Joseph Roth diese auf den ersten Blick die Donaumonarchie verherrlichende Erzählung, die in ihren Tiefenschichten jedoch messerscharfe Zeitanalysen bietet.
In dem Dorfe Lopatyny also lebte der Nachkomme eines alten polnischen Geschlechts, der Graf Franz Xaver Morstin – eines Geschlechtes, das (nebenbei gesagt) aus Italien stammte und im sechzehnten Jahrhundert nach Polen gekommen war. Der Graf Morstin hatte als junger Mann bei den Neuner-Dragonern gedient. Er betrachtete sich weder als einen Polen noch als einen Italiener, weder als einen polnischen Aristokraten noch als einen Aristokraten italienischer Abkunft. Nein: Wie so viele seiner Standesgenossen in den früheren Kronländern der österreichisch-ungarischen Monarchie war er einer der edelsten und reinsten Typen des Österreichers schlechthin, das heißt also: ein übernationaler Mensch und also ein Adeliger echter Art.
Dies ist der Einstieg und nicht der Kaiser, sondern das Übernationale liegt im Fokus. Morstins Geschichte ist der Überbau. Er wird als gutmütiger und beliebter Gutsherr vorgestellt, der sich für seine Leute bei den Beamten und Gerichten der Monarchie einsetzt, damit sie ihr Recht bekommen. Als guter Untertan zieht er auch in den Krieg und nach der Niederlage liegt Lopatyny in Polen. Morstin zieht in die Schweiz, die ihm als friedfertiges Land erscheint, doch er kommt mit der Gesellschaft der ultrakapitalistischen Neureichen nicht zurecht. Er beginnt zu trinken. Als ein russischer Bankier in einer Bar eine Kopie der Stephanskrone zum Spaß trägt, verlässt er die Schweiz und zieht zurück nach Lopatyny, wo er aus dem Keller eine von einem jungen Bildhauer aus Sandstein gestaltete Büste von Franz Joseph hervorholt (geschaffen während eines Kurzbesuchs von Franz Joseph für ein Manöver) und zum Eingang seines Guthofs stellt. Morstin stirbt als belächelter Sonderling und wird mit dieser Büste begraben.

Die Tiefenschicht jedoch bildet der Gegensatz zwischen nationalem und übernationalem Denken. Roth scheidet nicht zwischen national und nationalistisch, mit Grillparzer sieht er das Nationale als Grundübel, die seine Wurzel in der Aufklärung hat: "Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität." Und in einem Einschub ist die Anspielung auf Hitler unmissverständlich geäußert:
Man hatte im neunzehnten Jahrhundert bekanntlich entdeckt, daß jedes Individuum einer bestimmten Nation oder Rasse angehören müsse, wollte es wirklich als bürgerliches Individuum anerkannt werden. »Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität«, hatte der österreichische Dichter Grillparzer gesagt. Man begann just damals mit der »Nationalität«, der Vorstufe zu jener Bestialität, die wir heute erleben. Nationale Gesinnung: Man sah um jene Zeit deutlich, daß sie der vulgären Gemütsart all jener entsprang und entsprach, die den vulgärsten Stand einer neuzeitlichen Nation ausmachen. Es waren Photographen gewöhnlich, im Nebenberuf bei der wußte, daß der Kaiser selbst zu den Manövern kommen würde. Um jene Zeit war der Graf Morstin nicht mehr jung, früh ergraut und hager, Junggeselle, ein Hagestolz, etwas seltsam in den Augen seiner robusteren Standesgenossen, ein wenig »komisch« und »wie aus einer anderen Welt«. Niemals hatte man in der Gegend eine Frau in seiner Nähe gesehn. Niemals auch hatte er den Versuch gemacht, sich zu verheiraten. Niemals hatte man ihn trinken gesehn, niemals spielen, niemals lieben. Er hatte keine andere sichtbare Leidenschaft als die, die »Nationalitätenfrage« zu bekämpfen. Um jene Zeit begann nämlich in der Monarchie diese sogenannte »Nationalitätenfrage« heftig zu werden. Alle Leute bekannten sich – ob sie wollten oder so tun mußten, als wollten sie – zu irgendeiner der vielen Nationen, die es auf dem Gebiete der alten Monarchie gab. Man hatte im neunzehnten Jahrhundert bekanntlich entdeckt, daß jedes Individuum einer bestimmten Nation oder Rasse angehören müsse, wollte es wirklich als bürgerliches Individuum anerkannt werden. »Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität«, hatte der österreichische Dichter Grillparzer gesagt. Man begann just damals mit der »Nationalität«, der Vorstufe zu jener Bestialität, die wir heute erleben. Nationale Gesinnung: Man sah um jene Zeit deutlich, daß sie der vulgären Gemütsart all jener entsprang und entsprach, die den vulgärsten Stand einer neuzeitlichen Nation ausmachen. Es waren Photographen gewöhnlich, im Nebenberuf bei der freiwilligen Feuerwehr, sogenannte Kunstmaler, die aus Mangel an Talent in der Akademie der bildenden Künste keine Heimat gefunden hatten und infolgedessen Schildermaler oder Tapezierer geworden waren, unzufriedene Volksschullehrer, die gerne Mittelschullehrer, Apothekergehilfen, die gerne Doktoren geworden wären, Dentisten, die nicht Zahnärzte werden konnten, niedere Post- und Eisenbahnbeamte, Bankdiener, Förster und überhaupt innerhalb jeder der österreichischen Nationen all jene, die einen vergeblichen Anspruch auf ein unbeschränktes Ansehen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft erhoben. Allmählich gaben auch die sogenannten höheren Stände nach. Und all die Menschen, die niemals etwas anderes gewesen waren als Österreicher, in Tarnopol, in Sarajevo, in Wien, in Brünn, in Prag, in Czernowitz, in Oderburg, in Troppau, niemals etwas anderes als Österreicher: sie begannen nun, der »Forderung der Zeit« gehorchend, sich zur polnischen, tschechischen, ukrainischen, deutschen, rumänischen, slowenischen, kroatischen »Nation« zu bekennen – und so weiter.
Der Kapitalismus und seine neureichen Vertreter sind die Wegbereiter zur nationalstischen Diktatur. Die Züricher Bar, in der es zum Streithandel kommt, wird für Roth zum Vexierbild der postaristokratischen kapitalistischen Gesellschaft der 1920er Jahre, die geradewegs in die Katastrophe führen wird. Die geschilderten Gestalten erscheinen wie jene auf den Gemälden von George Grosz.
Er sah in der Mitte der länglichen Bar eine größere, heitere Gesellschaft. Sein erster Blick verriet ihm, daß alle Typen, die er haßte, obwohl er bis jetzt keinem einzigen ihrer Vertreter näher begegnet war, an jenem Tisch vertreten waren: blondgefärbte Frauen in kurzen Röcken und mit schamlosen (übrigens häßlichen) Knien, schlanke und biegsame Jünglinge von olivenfarbenem Teint, lächelnd mit tadellosen Zähnen wie die Propagandabüsten mancher Dentisten, gefügig, tänzerisch, feige, elegant und lauernd, eine Art tückischer Barbiere; ältere Herren mit sorgfältig, aber vergeblich verheimlichten Bäuchen und Glatzen, gutmütig, geil, jovial und krummbeinig, kurz und gut: eine Auslese jener Art von Menschen, die das Erbe der untergegangenen Welt vorläufig verwalteten, um es ein paar Jahre später an die noch moderneren und mörderischen Erben mit Gewinn abzugeben.
Es ist die Gesellschaft, in der die vermeintliche Krone zum Spaß getragen wird.
Franz Xaver verstand zuerst keineswegs den Sinn dieses widerlichen Spektakels. Er empfand nur, daß die Gesellschaft aus würdelosen Greisen (betört von kurzgeschürzten Mannequins) bestand, aus Stubenmädchen, die ihren freien Tag feierten, aus Bardamen, die den Erlös für den Champagner und den eigenen Körper mit den Kellnern teilten, aus nichtsnutzigen Stutzern, die mit Frauen und Devisen handelten, breit wattierte Schultern trugen und flatternde Hosen, die wie Weiberröcke aussahen, ekelhaften Maklern, die Häuser, Läden, Staatsbürgerschaften, Reisepässe, Konzessionen, gute Ehepartien, Taufscheine, Glaubensbekenntnisse, Adelstitel, Adoptionen, Bordelle und geschmuggelte Zigaretten vermittelten. Es war die Gesellschaft, die in allen Hauptstädten der allgemein besiegten europäischen Welt, unwiderruflich entschlossen, vom Leichenfraß zu leben, mit satten und dennoch unersättlichen Mäulern das Vergangene lästerte, die Gegenwart ausbeutete und das Zukünftige preisend verkündete. Dies waren nach dem Weltkrieg die Herren der Welt.
Dass das allgemeine Wahlrecht als Übel gesehen wird, lässt sich aus der Zeit verstehen, in der es Ultranationalisten wie Hitler schafften, dieses zur Machtergreifung zu nutzen. Elaboriert sind diese Gedanken nicht, sondern eingebettet in einen Wutausbruch über Nationalisten:
Um diese Zeit ungefähr wurde auch das »allgemeine, geheime und direkte Wahlrecht« in der Monarchie eingeführt. Graf Morstin haßte es, ebenso wie die moderne Auffassung von der »Nation«. Dem jüdischen Schankwirt Salomon Piniowsky, dem einzigen Menschen weit und breit, dem er einigermaßen Vernunft zutraute, pflegte er zu sagen: »Hör mich an, Salomon! Dieser ekelhafte Darwin, der da sagt, die Menschen stammten von den Affen ab, scheint doch recht zu haben. Es genügt den Menschen nicht mehr, in Völker geteilt zu sein, nein! – sie wollen bestimmten Nationen angehören. National – hörst du, Salomon?! – Auf solch eine Idee kommen selbst die Affen nicht. Die Theorie von Darwin scheint mir noch unvollständig. Vielleicht stammen aber die Affen von den Nationalisten ab, denn die Affen bedeuten einen Fortschritt. Du kennst die Bibel, Salomon, du weißt, daß da geschrieben steht, daß Gott am sechsten Tag den Menschen geschaffen hat, nicht den nationalen Menschen. Nicht wahr, Salomon?«
In vielem ist dieser Text immer noch höchst lesenswert und der Nationalismus hat nach wie vor nicht seine Attraktivität verloren. Die Frage, ob Grillparzers These nach wie vor ihre Gültigkeit besitzt, ist noch nicht beantwortet.

Nachdenklich stimmt nur der Personenbezug auf Franz Joseph. Die Verfassung der Habsburgmonarchie ab 1851 ist definitiv auf der Haben-Seite. Es gab freie Residenzwahl für alle Reichsbürger unabhängig ihrer Nationalität und Sklaven, die österreichischen Boden oder ein österreichisches Schiff betreten, sind frei. Ins Wanken kam die Monarchie mit der Priviligierung von Kern-Österreich und Ungarn 1867. Die Monarchie selbst wurde nationalistisch. Tschechen, Slowaken, Kroaten, Slowenen, Italiener, Polen, Ruthenen, Rumänen konnten durchaus das Gefühl erhalten, sie seien Reichsbürger zweiter oder dritter Klasse. Juden und Roma sind noch mal ein eigenes Rechtskapitel. Dies wird ebensowenig angesprochen (eher verklärt, siehe Eingangszitat, jedoch wiederum beschränkt auf die wahre Aristokratie) wie die Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg von Franz Joseph, der darauf bestand, Serbien ein unzumutbares Ultimatum zu stellen, um einen Kriegsgrund zu haben, ohne einen zweiten Gedanken über die Bündnisimplikationen zu verlieren.