Narrenschiffer
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Daniel Kehlmann - Ruhm
18.10.2025 um 14:47
Dieser Roman in neun losen Geschichten hat Daniel Kehlmann 2009 veröffentlicht.
Die Klammer ist ein berühmter Schauspieler namens Ralf Tanner, dessen Telefonnummer durch einen Fehler in der Rufnummervergabeabteilung einer Mobilfunkfirma einem gewissen Ebling zugeteilt wurde und der sich immer mehr den Spaß macht, alle möglichen Leute, die Tanner kontaktieren wollen, zu verprellen. So zerbrechen nicht nur dessen Liebschaften, sondern auch Aufträge. Kehlmann treibt es so weit, dass schließlich ein Double in Tanners Villa einzieht und der echte Tanner - vom Personal nicht mehr erkannt - vertrieben wird und unter einem anderen Namen in eine heruntergekommene Wohnung einzieht.
In einer Nebengeschichte werden die Leute der Mobilfunkabteilung aufs Böseste karikiert. Alle in der Abteilung unterstellen einander Nichtstun, und als der Chef wegen einer privaten Affäre und eines Doppellebens mit Familie und Geliebter nicht an einem internationalen Kongress zur Rufnummernvereinheitlichung teilnehmen kann und alle anderen aus persönlichen Gründen absagen, fährt ein adipöses Abteilungsmitglied zum Kongress, der null arbeitet und sein Leben als süchtiger Internettroll in Foren verbringt.
Die zweite Hauptfigur ist der alte Schriftsteller Leo Richter, der mit einer Ärztin von Ärzte ohne Grenzen auf Mittelamerikatour in die deutschen Kulturinstitute unterwegs ist (Klammer zu Tanner: Ein in einer Stadt übergroßes Filmplakat mit dessen Foto). Er ist feige und bricht wegen der Unzulänglichkeiten der Organisation wie seiner Flugangst die Vortragstournee ab und bittet die Kriminalautorin Maria Rubenstein statt seiner einen Vortrag in Tadschikistan zu übernehmen. Diese nimmt an und in der beklemmendsten Geschichte wird erzählt, wie sie, da Richter auf der Reiseliste steht, in einem verlassenen Provinzhotel für eine Nacht untergebracht und vergessen wird. Da ihr Visum abgelaufen ist, wirft die Polizei sie auf die Straße, nachdem sie von den Polizisten ausgeraubt worden ist. Kontakt zu irgendeiner Botschaft ist nicht möglich: der Handyakku ist wegen eines vergessenen Ladekabels leer und schließlich hat sie keines mehr. Auf dem Markt wird sie von einer Bauernfamilie, die ihr Essen gibt, auf deren Hof genommen und als Magd versklavt. Die Romane der Verschollenen werden in Deutschland Bestseller. Mann und Kinder scheinen auch nichts zu unternehmen, Maria zurückzuholen.
Eingefügt sind zwei Erzählungen von Richter (Fiktion in der Fiktion). Eine Geschichte handelt von einer alten Frau, Rosalie, mit tödlichem Bauchspeicheldrüsenkrebs, die in einer Schweizer Sterbehilfeanstalt den Freitod wählt. Rosalie hadert mit dem Erzähler, der doch eingreifen und sie gesund machen könne. Gesagt, getan. Rosalie ist wieder 20, verlässt die schäbige Sterbehilfewohnung und verschwindet aus der Erzählung. Der Tod einer fiktiven Figur. Die andere Geschichte hat Richter als Hauptfigur. Er ist tapfer und fliegt mit der Ärztin, die mit seiner Romanfigur Lara Gaspard verschmilzt, in ein afrikanisches Regenwaldgebiet, das von Bürgerkriegsmilizen kontrolliert wird.
Eine weitere Figur ist der weltbekannte esoterische Lebensberatungsschriftsteller Miguel Auristos Blancos, von vielen der Figuren im Roman gern gelesen. Sein Leben steht diametral seinen Texten gegenüber. Er lebt nicht in Einklang mit der Natur, sondern in einem Penthouse mit Swimming Pool in Rio de Janeiro. Im Laufe eines Mail-Wechsels mit einer Äbtissin überkommen ihn Selbstmordgedanken. Es bleibt offen, ob er diese umsetzt. Seine geäußerten Gedanken über Gott und das Leiden und dass der Menschheit nur das Lügen helfe, seien die "Auslöschung seines Lebenswerks".
Die thematische Klammer von Identität und Identitätsverlust bis hin zur Identitätsauslöschung wird existenzialistisch, wenn Kehlmann Leo Richter dies äußern lässt:
«Wir sind immer in Geschichten.» Er zog an der Zigarette, der Glutpunkt leuchtete rot auf, dann senkte er sie und blies Rauch in die warme Luft. «Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander. Nur in Büchern sind sie säuberlich getrennt.»Kehlmann kann schreiben und dieser Text ist aufgrund seiner Verschränktheit und dem hohen Niveau der Einzelgeschichten definitiv lesenswert.