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Feridun Zaimoglu - Leyla
gestern um 12:09
Feridun Zaimoglu veröffentlichte diesen furiosen Roman, der den Lebensweg seiner Mutter nachgestaltet, im Jahr 2006. Vor allem der erste Teil, der aus der Sicht der vorpubertären Leyla das Aufwachsen in einer anatolischen Kleinstadt in den 1950er Jahren unter der Fuchtel eines toxischen, gewalttätigen und trinkenden Vaters geschildert wird, lässt einen sprachlos zurück. Nicht Zaimoglu, dessen Sprachmacht schier unerschöpflich ist.
Die immer noch schwelenden ethnischen Konflikte verdichten sich in Leylas Familie. Der Vater, Halid, ist ein aus der Sowjetunion geflüchteter Tschetschene, der Kurden hasst und Leyla nur nach Intervention des Schuldirektors bei einem Schulausflug an den Euphrat mitfahren lässt, da diese von einem reichen Kurden organisiert ist, die Mutter Armenierin, die Halid nach einer Massenvergewaltigung durch sowjetische Soldaten geheiratet hat. Vor seinem Tod in Istanbul erzählt Halid:
Die Rote Armee kam wie eine Gottesplage über uns, das war nichts Neues, der Russe bekriegt uns, und wir bekriegen ihn im Gegenzug. Ein großes Gemetzel. Meine Väter haben Haus und Hof verlassen, sie sind geflohen, was hätten sie sonst tun sollen? Die einen wurden gemordet, die anderen deportiert. Einigen wenigen gelang die Flucht hierher, in dieses Land, sie flohen in den Osten des Landes. Der Russe ist mit dem Instinkt gesegnet, uns zu unterjochen, und weil wir … uns dagegen auflehnen, morden sie uns.Aber aus diesem Grund sieht Halid aus eigenem wie auch muslimischen Ethos seine Frau als Hure und sie hat ihm willenlos zu gehorchen. Ihre fünf gemeinsamen Kinder sind "Tiere", wie er viel früher in Anatolien zu ihr sagt:
Unter den Vertriebenen waren also meine Großeltern, mein Vater und ein Großteil der Sippe. Sie haben es geschafft, am Leben zu bleiben, sie sind von Gott ausgezeichnet worden. Sie kamen hierher, die Vertriebenen stießen auf die Ackerherren, und es gab bald wieder eine große Unruhe. Meine Ahnen standen auf der Seite der Mehrheit des Volkes, und sie gingen dazu über, die Widerstandsnester auszumerzen. Ist das die Wahrheit oder wieder einmal nur ein Märchen? Es ist mir zu dieser Stunde egal. Es geht nicht um Recht oder Unrecht. Es geht nicht um meine Sippe, sondern um dich, Frau. Denn du hast mich zu deinem lebenslänglichen Gefangenen gemacht. Weiß es unserer beider Brut?
Das Massaker dort in der Oststadt dauerte viele Tage. Ich habe mich keiner Partei angeschlossen, ich war kein Soldat einer bewaffneten Einheit. Trotzdem weiß ich, was passiert ist, ich weiß auch, was im Stall passiert ist, ich weiß, was man mit deinen Brüdern gemacht hat … Man nahm sie mit, die Soldaten haben sie mitgenommen, und du hast sie nie wiedergesehen. Das Massaker dauerte viele Tage an. Verdammt will ich sein, wenn ich mich einer Einheit angeschlossen habe. Ich habe mich versteckt, ich habe mich in diesem Stall versteckt, und da sah ich alles, ich konnte mich doch nicht umdrehen und so tun, als gebe es dich nicht … als gebe es diese Männer nicht … Im Krieg sind alle Mittel recht, diese Soldaten haben die Beute geteilt …
Dich habe ich geliebt, Frau. Du lagst unter einem Soldaten, du konntest nichts tun, weil ein zweiter Soldat die Spitze seines Bajonetts auf deine Kehle richtete … Ein dritter und ein vierter Soldat, jeder kam an die Reihe, und ich … ich habe in meinem Versteck ausgeharrt, meinen Blick aber konnte ich nicht abwenden. Fremde Männer haben sich an dir vergangen, und ich konnte nicht dazwischengehen. Sie haben dich angebrochen, sie haben dich zerfetzt, sie haben mit dir gespielt und die schöne Puppe zurückgelassen. ... Du warst keine Jungfrau mehr, als ich dich geheiratet habe. Ich war vernarrt in dich. Kein Mann hätte dich genommen, nicht … in dem Zustand, in dem du warst. Sie hätten dich vielleicht mit Steinen vertrieben oder mit dornigen Stengeln gepeitscht.
Du mußt mir dankbar sein, sagt Halid, aber du bist eine undankbare armenische Nutte. Du hast kein Viertel Anstand, nicht in der vergifteten Milch deiner Brüste, nicht dort, wo diese fünf Tiere herausgekommen sind. Nicht in deinen Augen, nicht in deinen Händen … Er wirft mit einem harten Gegenstand aus seiner Jackentasche nach ihr. ... Du bist mir als Soldatenflittchen zugelaufen, und ich hatte Erbarmen mit dir. Mein Erbarmen mit euch Hunderasse ist verschwendet.Lauthals beruft er sich bei seinem Familienterror auf den Koran:
Hier steht es, schreit er, ihr seid meine Untergebenen. Der Schlüssel zum Paradies ist in meinen Händen, ihr Hundebrut! Nicht ich habe die Regeln aufgestellt, sondern der Erhabene, dessen Namen ihr nicht in den Mund nehmen dürft, so schmutzig seid ihr … Der Prügel treibt die Gläubigen ins Paradies, hier steht es geschrieben, der Bolschewist ist ein Feind Gottes und lehrt daher lockere Sitten. Hier, an dieser Stelle, lese ich: Ihr Frauen tut den Feinden Gottes einen großen Gefallen, wenn ihr eure Vorderseiten von fremden Männern aufreißen laßt. Der Vater ist Herr des Weibes und der Kinder … Der Vater ist euer Fürst! Der Vater ist euer Bollwerk gegen die Bolschewisten! Der Vater wartet im anderen Leben an der Paradiespforte, und nur wenn er es zuläßt, werdet ihr hineingehen können. Das alles steht im Koran, ihr Dämonenbrut!Die Familie lebt in bitterer Armut und haust in einer Lehmhütte. Die Mutter ist Tagelöhnerin und verrichtet Hilfsdienste für Nachbarinnen. Halid, der für die ethnischen Türken im Ort "der Tschetschene" ist, verliert seine Stellung bei der türkischen Staatsbahn, da er Akten verbrannt hat, und hält die Familie mit Schiebereien am Bahnhof über Wasser. Als er sich jedoch als Drogenkurier anheuern lässt und das Opium auf seinem Grundstück lagert, wird er bei einer Razzia gefasst und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Für die Familie ist diese Gefängniszeit trotz noch schlechterer Lebensbedingungen eine Befreiung vor diesem jähzornigen Menschen, den Leyla nie Vater, sondern immer nur "Mann meiner Mutter" nennt. Nach Halids Entlassung wird es nur noch schlimmer. Er beginnt zu saufen und verbringt seine Tage im Café und bei Prostituierten. Nicht nur einmal muss Leyla ihren besinnungslos betrunkenen Vater nach Hause bringen, da er von selbst nicht mehr dazu fähig ist.
Zaimoglu lässt Halid aber auch über sein früheres Leben in Tschetschenien berichten. So über einen Überfall der Roten Armee auf das Dorf seiner Eltern:
Die Soldaten stellten Fragen, auf die wir keine Antwort wußten. Sie stachen meiner Mutter ein Auge aus und stellten weiter ihre Fragen. Sie fesselten meinen Vater, sie fesselten meine Brüder und führten sie weg. Ich habe sie nie wiedergesehen. Sie gingen einfach weg, sie durften nicht zurückschauen. Sie stellten ihre Fragen, und ich wußte keine Antwort. Dann … haben sie das Unaussprechliche mit mir gemacht. Ihr Satansbrut, ist es das, was ihr wissen wolltet?! Seid ihr jetzt zufrieden?! Keine Antwort ist die falsche Antwort, und man wird bestraft. Zwei Tage habe ich meine einäugige Mutter gepflegt, und dann starb sie mir weg. Seid ihr jetzt zufrieden? Ist das die Antwort, auf die ihr gewartet habt? Zwei Schwestern sind geflohen, auch sie sind weggegangen, aber sie kehrten zurück. Sie waren Amerikanerinnen geworden. Sie wollten mich unbedingt mitnehmen. Ich willigte ein, ich wollte das verfluchte Land verlassen. Du, Yasmin, warst noch sehr klein, und euch gab es noch nicht. Ich wollte meine einzige Tochter schnappen und fliehen ins Land Amerika. Er hat mich geschnappt. Prügelte auf mich ein, prügelte auf meine Schwestern ein und jagte sie fort. Sie gingen, ich blieb. Ich habe nie wieder etwas von den beiden gehört. Meine Schwestern in Amerika. Wie schön sie waren, in was für schönen Kleidern sie steckten! Richtige Damen, meine Schwestern, richtige Amerikanerinnen.Neben Erzählungen Leylas über ihre Freundinnen und die Schule wird immer wieder Politisches eingeflochten. So entzweien sich die Stadtbewohner über die türkische Teilnahme am Koreakrieg. Wie es verkrüppelten Rückkehrern im Ort ergeht, zeigt diese kleine Episode:
Die Kriegsheimkehrer in unserem Viertel gehen auf Holzkrücken und in eigenartiger Bekleidung herum, sie tragen ihre Uniformen, Halbmondorden hängen an ihrer Brust, die Saumnaht ihrer Soldatenmäntel ist aufgegangen, der schwere Stoff verwischt ihre Fußspuren im Staub. Die Kinder finden Spaß an einem neuen Spiel, sie binden nicht mehr leere Konservendosen an die Schwänze der Katzen. Sie folgen heimlich einem Soldatengespenst, dann blasen sie eine Papiertüte auf und lassen sie platzen. Der Soldat wirft sich fast immer auf den Boden, bedeckt seinen Kopf mit beiden Händen.Wie in Bertoluccis Film 1900 entzweien sich auch Leylas Brüder. Einer ist glühender Nationalist und Rassist, der andere steht links und sympathisiert mit den Kommunisten. Anders als bei Bertolucci wird dieser Konflikt nicht ins Extreme geführt, sondern beide werden mit der Zeit, vor allem nach der Übersiedlung nach Istanbul moderater.
Halid bestimmt, nach Istanbul zu ziehen, als die Söhne dort zu studieren und arbeiten beginnen. Beide müssen das Geld abliefern. Etwas undurchsichtig ist, warum eine "Großtante" die komplette Familie in ihre große Wohnung aufnimmt. Es sickert durch, dass sie in jungen Jahren eine Geliebte Halids hat sein müssen. Dieser dominiert binnen kürzester Zeit und pudelt sich als Hausherr auf. Auch werden Ehen eingefädelt, und bei den Eheverhandlungen gebiert sich Halid als Ehrenmann, der er überhaupt nicht ist, und es ist offensichtlich, dass es ihm nur darum geht, in der gesellschaftlichen Hierarchie nach oben zu heiraten bzw. in Geld einzuheiraten.
Gegen Leylas Verehrer Metin sperrt er sich Ewigkeiten, doch schließlich heiraten die beiden. Doch auch diese Ehe ist für Leyla zunächst nur die Fortsetzung eines Horrortrips. Da Metin sich selbst verwirklichen will und seinen Traum, nach Deutschland zu ziehen, umsetzen will, schickt er Leyla binnen kürzester Zeit zu ihrer Familie zurück, nicht ohne sie unflätig zu beleidigen, was auch die Arroganz Istanbuls gegenüber der Provinz zum Ausruck bringt:
Degeneriert – so hat auch Metin mich geschimpft. Ich sei ein Mädchen, das den geringsten Anforderungen eines Mannes nicht genügte.Damit ist Metin wohl ehrlicher, der nicht nach Deutschland gereist ist, wie er angegeben hat, sondern sich in Istanbul mit anderen Frauen und Mädchen vergnügt. Doch auch Metin kann seinem wahren Stand nicht entkommen. Er lebt bei seinem Vater, arbeitet in einer Schlachterei (auch mit seinem Beruf hat er gegenüber Leyla gelogen). So ziehen sie wieder zusammen und hausen unter ärmlichsten Bedingungen. Aus einer Deutschlandreise, wo er Arbeit gesucht hat, kommt Metin abgemagert zurück.
Halid hat inzwischen ein Delikatessengeschäft eines vertriebenen Griechen übernommen (es gibt nach wie vor Animositäten gegenüber den restlichen verbliebenen Griechen, die in Pogrome ausarten), verkauft teuerst, doch auch dieses Geschäft geht wegen illegaler Gebahrung den Bach runter. Halid verkommt und beginnt wieder zu saufen. Dies jedoch ist sein Ende, er stirbt elendiglich.
Die älteren Schwestern Leylas arbeiten mittlerweile in einer Elektronikfabrik in Deutschland, auch Metin hat eine Stelle gefunden. Und nach dem Tod Halids fahren Leyla, ihr kleiner Sohn und ihre Mutter mit dem Zug nach Berlin. Die Reise dauert drei Tage.