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Thomas Mann - Der Tod in Venedig
06.12.2025 um 21:51
Thomas Mann hat als 36-Jähriger diese Novelle 1911 nach einem Venedig-Aufenthalt geschrieben. Der Plot ist schnell geschrieben. Der gut 50-jährige Künstler Gustav von Aschenbach reist von München nach Venedig, wo er an Cholera stirbt.
Doch dies ist nicht der Kern der Erzählung. In die etwa 100 Seiten sind Reflexionen über das Künstlerdasein, einen europäischen Charakter, über das Verhältnis von Schönheit und Eros, aber auch beißende Kritik an den Auswirkungen einer vom Tourismus abhängigen Wirtschaft gepackt. Hinzu kommt eine fast tranceartige Sprache.
Aschenbach ist ein Charakter, der sich durch strikte Disziplin seine Kunstwerke und Texte abringt, was sich auch in seinem Lebensrhythmus spiegelt. Außer den Sommermonaten, die er in einem Bergdomizil verbringt, lebt er nach einem strikten Rhythmus arbeitend in München. Sie ist für ihn "starrer, kalter und leidenschaftlicher Dienst".
Aschenbach hatte es einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar ausgesprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche, Laster, Leidenschaft und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei.An einer Stelle vergleicht er sich mit einem Soldaten:
Auch er hatte gedient, auch er sich in harter Zucht geübt; auch er war Soldat und Kriegsmann gewesen, gleich manchen von ihnen,—denn die Kunst war ein Krieg, ein aufreibender Kampf, für welchen man heute nicht lange taugte. Ein Leben der Selbstüberwindung und des Trotzdem, ein herbes, standhaftes und enthaltsames Leben, das er zum Sinnbild für einen zarten und zeitgemäßen Heroismus gestaltet hatte,—wohl durfte er es männlich, durfte es tapfer nennen.An Reisen denkt er nicht und Mann erhebt ihn zum Sinnbild einer "europäischen Seele":
Er hatte, zum mindesten seit ihm die Mittel zu Gebote gewesen wären, die Vorteile des Weltverkehrs beliebig zu genießen, das Reisen nicht anders denn als eine hygienische Maßregel betrachtet, die gegen Sinn und Neigung dann und wann hatte getroffen werden müssen. Zu beschäftigt mit den Aufgaben, welche sein Ich und die europäische Seele ihm stellten, zu belastet von der Verpflichtung zur Produktion, der Zerstreuung zu abgeneigt, um zum Liebhaber der bunten Außenwelt zu taugen, hatte er sich durchaus mit der Anschauung begnügt, die heute jedermann, ohne sich weit aus seinem Kreise zu rühren, von der Oberfläche der Erde gewinnen kann, und war niemals auch nur versucht gewesen, Europa zu verlassen.Es ist die Beobachtung anderer Menschen, die Aschenbach aus seinem Leben reißt, ihn reisen und kontemplativ werden lässt. In München ist es die Anschauung eines rothaarigen Mannes keltischen Typs in einem Park, die in ihm den Entschluss reifen lässt zu reisen. Zunächst über Triest nach Istrien und schließlich nach Venedig.
In Venedig ist er fasziniert von einem 14-jährigen adeligen polnischen Jungen, dessen Schönheit er für antik ideal hält. Aschenbach kann nicht anders, als ihn ständig zu beobachten. Zunächst am Strand, und schließlich folgt er der polnischen Familie auf ihren Spaziergängen. Mann postuliert, dass bei Künstlern und Schriftstellern bei der Betrachtung von schönen Menschen es nicht bei der Anschauung bleibt, sondern immer der Eros hinzukommt, weswegen Künstler als Erzieher nicht in Frage kommen dürfen. Sein Zeuge ist Sokrates' Gespräch mit Phaidros:
"Denn die Schönheit, Phaidros, merke das wohl! nur die Schönheit ist göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des Sinnlichen Weg, ist, kleiner Phaidros, der Weg des Künstlers zum Geiste. Glaubst du nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum Geistigen durch die Sinne führt? Oder glaubst du vielmehr (ich stelle dir die Entscheidung frei), daß dies ein gefährlich-lieblicher Weg sei, wahrhaft ein Irr-und Sündenweg, der mit Notwendigkeit in die Irre leitet? Denn du mußt wissen, daß wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen können, ohne daß Eros sich zugesellt und sich zum Führer aufwirft; ja, mögen wir auch Helden auf unsere Art und züchtige Kriegsleute sein, so sind wir wie Weiber, denn Leidenschaft ist unsere Erhebung, und unsere Sehnsucht muß Liebe bleiben,—das ist unsere Lust und unsere Schande. Siehst du nun wohl, daß wir Dichter nicht weise noch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre gehen, notwendig liederlich und Abenteurer des Gefühles bleiben? Die Meisterhaltung unseres Styls ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst lächerlich, Volks-und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu verbietendes Unternehmen."Bei einem seiner Spaziergänge wird Aschenbach eines strengen Karbol-Geruchs gewahr. Alle Venezianer, die er befragt, antworten einmütig in beinahe identischem Wortlaut, dass dies nur eine polizeiliche Vorsichtsmaßnahme sei, um den Gefahren der Hitze und des Scirocco vorzubeugen. Aschenbach wird hellhörig, und ein Angestellter in einem englischen Reisebüro eröffnet ihm die Wahrheit: Venedig werde von einer Choleraepidemie heimgesucht, die 80 Prozent der Angesteckten dahinraffe. Die Behörden versuchen, dies zu vertuschen, um den Fremdenverkehr nicht zusammenbrechen zu lassen.
Das war Venedig, die schmeichlerische und verdächtige Schöne, - diese Stadt, halb Märchen, halb Fremdenfalle, in deren fauliger Luft die Kunst einst schwelgerisch aufwucherte und welche den Musikern Klänge eingab, die wiegen und buhlerisch einlullen. Dem Abenteuernden war es, als tränke sein Auge dergleichen Üppigkeit, als würde sein Ohr von solchen Melodien umworben; er erinnerte sich auch, daß die Stadt krank sei und es aus Gewinnsucht verheimliche.Den Tod ereilt Aschenbach am Strand, als er das letzte Mal den polnischen Jungen beobachtet, dessen Familie am selben Tag abreisen wird. Angesteckt hat er sich mit dem Verzehr von überreifen Erdbeeren, die er auf einem Marktstand gekauft hat.
Die hohe Sprachkunst dieser Erzählung sei an einem Traum wiedergegeben, der Aschenbach in München nach der Ansicht des Fremden im Park dazu verleitet, die Reise anzutreten:
Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert. Er sah nämlich, als Beispiel gleichsam für alle Wunder und Schrecken der mannigfaltigen Erde, die seine Begierde sich auf einmal vorzustellen trachtete,—sah wie mit leiblichem Auge eine ungeheuere Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungesund, eine von Menschen gemiedene Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen. Die flachen Eilande, deren Boden mit Blättern, so dick wie Hände, mit riesigen Farnen, mit fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk überwuchert war, sandten haarige Palmenschäfte empor, und wunderlich ungestalte Bäume, deren Wurzeln dem Stamm entwuchsen und sich durch die Luft in den Boden, ins Wasser senkten, bildeten verworrene Waldungen. Auf der stockenden, grünschattig spiegelnden Flut schwammen, wie Schüsseln groß, milchweiße Blumen; Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit unförmigen Schnäbeln, standen auf hohen Beinen im Seichten und blickten unbeweglich zur Seite, während durch ausgedehnte Schilffelder ein klapperndes Wetzen und Rauschen ging, wie durch Heere von Geharnischten; dem Schauenden war es, als hauchte der laue, mephitische Odem dieser geilen und untauglichen Öde ihn an, die in einem ungeheuerlichen Zustande von Werden oder Vergehen zu schweben schien, zwischen den knotigen Rohrstämmen eines Bambusdickichts glaubte er einen Augenblick die phosphoreszierenden Lichter des Tigers funkeln zu sehen—und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen. Dann wich das Gesicht